You are currently viewing Grenzfahrt

Grenzfahrt

Vieles ist anders geworden in den letzten Wochen. Corona rollt wie eine Lawine über uns hinweg und verändert unsere Leben. Ungläubig, verstört, hochgradig besorgt, dann wieder zuversichtlich. Diese Abfolge beschreibt das Auf und Ab meines Erlebens und Empfindens ziemlich treffend. Ich versuche Bücher zu hamstern, denn tapfere und erfindungsreiche Buchhändler, die unsere Bestellungen auf neu geschaffenen Lieferwegen zum Leser bringen, brauchen genau jetzt Vielleser und solche, die es werden wollen. Dies ist eine Win-win-Situation, denn ich erkenne in der Krise deutlicher denn je, dass ich Bücher brauche. 

Es fiel mir in den letzten Wochen schwer, ein Buch zu finden, das das richtige war – für Abende, an denen ich nach langen Tagen zur Ruhe kommen wollte. Für frühe Morgenstunden, an denen ich in der Küche bei einem Kaffee saß und überlegte, was am nun anbrechenden Tag zu organisieren sei. Ich irrte durch meine Regale, begann zu lesen, um viele Bücher wieder zur Seite zu legen und ihnen zu sagen, dass unsere gemeinsame Zeit vorbei oder noch nicht gekommen ist.

Und dann stieg ich mit Michael Palin an Bord der Erebus. Im letzten Herbst hatte mich der erste Satz überzeugt: „Seit jeher faszinieren mich Geschichten über die Seefahrt.“ Michael Palin und ich haben etwas gemeinsam. Es ist übrigens der Michael Palin, der als Mitglied der Monty-Python-Truppe berühmt geworden ist. Die Tatsache, dass Palin nicht nur ein herausragender Komiker, sondern auch Historiker und Autor ist, war mich bis dahin nicht präsent. In diesem Buch erzählt er die Geschichte der Erebus, die mit den Männern der Franklin-Expedition und ihrem Schwesterschiff Terror Mitte des 19. Jahrhunderts im arktischen Eis der Nordwestpassage verschwand. 

Nach dem Ende Napoleons konzentrierte sich die britische Seefahrt auf Forschungs- und Entdeckungsreisen. Ursprünglich für Kriegszwecke gebaute Schiffe, deren Namen dafür gedacht waren, dem Feind Furcht einzuflößen – Erebos ist in der griechischen Mythologie der Gott der Finsternis – wurden jetzt für Erkundungsfahrten in die Arktis und Antarktis genutzt. Die erste Fahrt der Erebus führte über das Kap der Guten Hoffnung nach Tasmanien. Von dort brach die Mannschaft auf, um den magnetischen Südpool zu entdecken. Über Feuerland ging es zurück nach Südafrika, um den Atlantik noch einmal zu überqueren, in Rio de Janeiro an Land zu gehen und schließlich nach London zurückzukehren. Die Mannschaft war nahezu vier Jahre unterwegs. 

Ich folge dem Kommandanten James Clark Ross und seinen Männern an den Rand des atemberaubenden antarktischen Schelfeises, der sogenannten Barriere des Südens, die sich bis zu sechzig Meter hoch über vielen Kilometer entlang der Küste erstreckt. Die Antarktis war erst wenige Jahre zuvor erstmals von Menschen bereist worden. Ross und seine Mannschaft entgingen mit viel Glück dem Gefängnis im Packeis, um schließlich wohlbehalten nach Hause zurückzukehren. 

Die zweite und letzte Fahrt, die die Erebus in den äußersten Norden führte, endete in einer Katastrophe. Auftrag der Franklin-Expedition war die Entdeckung der Nordwestpassage, die eine Alternative zu dem weiten Weg über Kap Hoorn sein sollte. Gemeinsam mit der Terror legte die Erebus unter dem Kommando von Sir John Franklin im Mai 1845 ab und wurde bis Grönland von einem Proviantschiff begleitet. Danach verschwand ihre Spur für gut anderthalb Jahrhunderte. 

Viele Polarforscher machten sich im Lauf der Zeit auf die Suche nach den Verschollenen, fanden Spuren in der kargen Landschaft und rekonstruierten das Schicksal der Mannschaft aus Erzählungen der Inuit. Im September 2014 wurde schließlich das Wrack der Erebus im Eis entdeckt. Zwei Jahre später fand man die Überreste des zweiten Schiffes, der Terror. 

Michael Palin hat die Geschichte der Erebus und ihrer Besatzung akribisch recherchiert und er erzählt sie faktenreich und souverän. Palins Buch ist mehr als nur ein Stück Seefahrts- und Forschungsgeschichte, denn er versucht die menschliche Komponente der Expeditionen zu ermessen und darzustellen. Er hat Tagebücher, Briefe und Logbücher ausgewertet, um eine Eindruck davon zu vermitteln, wie es gewesen sein mag, in eine monate-, mitunter jahrelange Isolation zu gehen. Auf schwankendem Boden. Mit meterhohen Wellen, schwersten Sturm und Kälte. Ohne Platz für Privatsphäre und Individualität. Mit der hohen Wahrscheinlichkeit, das eigene Leben zu verlieren. 

Er stellt die Männer an Bord vor, nennt sie beim Namen, erzählt das, was über ihre Lebensgeschichten bekannt ist. Wie hat man einen Wintertag in der polaren Welt verbracht, an dem die Nacht vierundzwanzig Stunden dauerte?  Wie konnte man einen Winter im Packeis verbringen?

Palin ist und bleibt neugierig. Er fragt und akzeptiert, dass es nicht auf jede Frage Antworten gibt. Er zeigt die unterschiedlichen Ansätze auf, die das Scheitern der Expedition und den unbarmherzigen Tod der Besatzung erklären, darunter Skorbut und eine Bleivergiftung aufgrund mangelhafter Konservendosen.

Dieses Buch ist ein spannender wie bewegender Bericht über Menschen in Grenzsituationen. Über Menschen, die neugierig, ehrgeizig, mutig und fehlbar waren. Palin ist ein ebenso unaufgeregter wie menschlicher Erzähler und das hat dieses Buch für mich in den vergangenen Tagen so ungemein sympathisch und  tröstlich gemacht.

Michael Palin: Erebus
Übersetzt von Rudolf Mast
Mare Verlag 2019
ISBN 978-3-86648-604-1

Teile diesen Beitrag
  • Beitrag veröffentlicht:12. April 2020
  • Beitrags-Kategorie:Sachbuch

Schreibe einen Kommentar