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Endlich!

Diesen letzten Teil der Hulda-Trilogie habe ich mit Spannung erwartet. Nachdem ich von dem ersten und zweiten Teil – „Dunkel“ und „Insel“ – überzeugt war, wurde ich im Lauf des Spätsommers immer neugieriger: Gelingt es Ragnar Jónasson auch im letzten Band, den Leser bis zur letzten Seite zu fesseln? 

Jónasson führt den Leser in der Geschichte zurück zu dem Zeitpunkt, an dem für Hulda noch alles gut zu sein scheint. Sie nimmt Veränderungen an ihrer Tochter Dimma wahr, ordnet es der Pubertät zu und hofft auf das Weihnachtsfest, an dem sich hoffentlich alle Probleme in Luft auflösen.

Zur gleichen Zeit im Hochland von Ostisland: Der einsame Hof von Erla und Einar versinkt im Schnee. Das Ehepaar freut sich auf die Feiertage, während draußen ein Blizzard aufzieht. Erla hadert bereits seit Jahren mit dem Leben in der verlassenen Gegend und sehnt sich zurück in die Hauptstadt. Ihr Glück ist, dass ihre Tochter Anna vor einiger Zeit auf das entlegene Gehöft zurückgekehrt ist und nun in einem kleinen Haus unweit des Hofes lebt. Die Vorfreude auf das Fest wird jäh unterbrochen, als ein Fremder an der Tür klopft und erklärt, er habe sich bei der Jagd verlaufen und seine Kameraden verloren. Als der Fremde anfängt, sich im Haus umzusehen, wird Erla misstrauisch. Warum ist kurz vor seiner Ankunft die Telefonleitung zusammengebrochen?

Zur gleichen Zeit kommt Hulda in einem Vermisstenfall nicht weiter. Unnur, ein junges künstlerisch begabtes Mädchen, hat sich eine Auszeit genommen und reist quer durch Island. Als sie sich jedoch nicht mehr bei ihren Eltern meldet, beginnen diese, die Tochter zu suchen. Unnur soll zu einem Fremden ins Auto gestiegen sein, danach verliert sich ihre Spur.

Wie bereits in den ersten beiden Bänden ist der Szenenwechsel souverän, die Handlungsstränge und Sprünge in der Chronologie des Geschehens werden gekonnt miteinander verknüpft. Herausragend gut sind die Szenen im Hochland: Erla, Einar und der Fremde, eingeschlossen im Schnee, Erlas innere Monologe, ihre Ängste und ein plötzlich aufkeimender Verdacht. In diesem Sinne: Ja! Jónasson hat es geschafft. Ich habe „Nebel“ nicht aus der Hand legen können. Bis weit über Mitternacht hinaus an einem Sonntagabend, wider alle Vernunft. Dies hat sich am Montagmorgen gerächt, aber es war herrlich. 

Während der Reiz der ersten beiden Bände unter anderem darin besteht, dass Jónasson bestimmte Rätsel in der Handlung nur gegenüber dem Leser auflöst, seine Figuren aber in Unwissenheit belässt, bleiben am Ende des dritten Bandes für mich Fragen offen, die ich als Leserin beantwortet wissen möchte: Die Figur Jón, Huldas Ehemann, ist eine Silhouette, als solche zu blass und erschließt sich mir nicht. Und ich frage mich noch immer, warum die Telefonleitung gekappt wurde. 

Nichtsdestotrotz empfehle ich diese Trilogie jedem Krimileser. Sie ist durch die umgekehrte Chronologie eine Besonderheit und steht für mich zu Recht auf der Bestsellerliste. Die Times hat diese Reihe als „landmark of modern crime fiction“ gerühmt, in den Blogs scheiden sich mitunter die Geister. 

Diese Trilogie ist vor allem für Island-Begeisterte eine Leseempfehlung, wie schon einige andere Bücher, die ich in meinem Blog vorgestellt habe. Ich finde in ihr die Landschaften und die Atmosphäre dieses Landes so treffend wieder, wie ich es in Erinnerung habe. 

Gemessen an seiner Einwohnerzahl kann Island mit einer außergewöhnlich hohen Anzahl von Verlagen – über dreißig an der Zahl – und Schriftstellern aufwarten. 2011 war Island Gastland der Frankfurter Buchmesse und in diesem Zusammenhang wurde berichtet, dass jeder Isländer im Schnitt acht Bücher pro Jahr kauft. Höhepunkt der isländischen Literaturbegeisterung ist die weihnachtliche Jólabókaflóð, die Bücherflut. Es ist Tradition, dass man zu Weihnachten Bücher schenkt und sich an den Feiertagen mit dem neuen Lesestapel zurückzieht. In „Nebel“ sehnt Erla schon den Weihnachtstag herbei, um sich in dem eingeschneiten Haus mitten im Hochland ihren neuen Romanen widmen zu können. Doch dann kommt es anders. Ich freue mich über das Nachwort in diesem dritten Band, in dem Jónasson von dieser herausragenden Lesebegeisterung der Isländer erzählt, die insbesondere an Weihnachten zutage tritt.

Am Ende des Buches steht eine Kurzgeschichte Jónasson, „Stille Nacht“, in der der Polizist Ari am Heiligabend zu einer alten Frau gerufen wird, die jedes Jahr Briefe von einem Toten erhält. Jetzt bin ich neugierig auf weitere Bücher von Jónasson und habe sogleich den ersten Band der Reihe „Dark Iceland“ bei meiner Lieblingsbuchhandlung vor Ort bestellt. 

Ragnar Jònasson: Nebel
Aus dem Englischen von Andreas Jäger
btb Verlag 2020
ISBN 978-3-641-25168-0

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