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„Still crazy after all these years“

Wenn es eine Musik meines Lebens gibt, dann sind es die Songs von Paul Simon. Warum ich darüber in einem Buchblog schreiben? Weil ich Paul Simons Lieder seit jeher nicht nur höre, sondern auch lese. Als gesungene Poesie. So sind sie auch zu Gedichten und Geschichten meines Lebens geworden. 

In den Achtzigerjahren habe ich mir meine erste Simon-and-Garfunkel-Platte gekauft, „Greatest Hits“. Ich hatte nach dem Sommerurlaub noch Taschengeld übrig, es musste diese Platte sein und seither verbinde ich alle Songs dieses Albums mit dem Lebensgefühl jenes sonnigen Spätsommers, kurz bevor die Schule wieder losgehen sollte:

„I got no deeds to do, no promises to keep
I’m dappled and drowsy and ready to sleep
Let the morningtime drop all its petals on me
Life, I love you, all is groovy“

Es war sicherlich verschroben, mit dreizehn Jahren Musik zu hören, die damals schon älter war als ich selbst und nicht von Leuten mit Schulterpolstern und asymetrischen Frisuren gemacht wurde. Aber gerade das faszinierte mich: Dies war kein Plastik und kein Pop, es war authentisch, nicht austauschbar und bedeutete deshalb für mich so etwas wie Freiheit. Außerdem gab es mir das, was man mit dreizehn dringend braucht: eine persönliche Note. Ich wollte unbedingt nach New York, um dort „the only living girl“ zu werden und ich wollte lernen Gitarre zu spielen. Mit einem alten Englisch-Wörterbuch entschlüsselte ich die Texte Zeile für Zeile und verschlang bei jeder neuen Platte die Texte auf der Innenhülle genauso wie die Musik selbst: 

„ God only knows, God makes his plan
The information’s unavailable to the mortal man
We’re working our jobs, collect our pay
Believe we’re gliding down the highway
When in fact we’re slip sliding away

Slip sliding away
Slip sliding away
You know the nearer your destination
The more you’re slip sliding away.”

Paul Simon überrascht, unterhält, bewegt mich bis heute. Ich habe mich noch nie mit Paul Simon gelangweilt und kenne keinen einzigen Song von ihm, der mir nichts sagt. Paul Simons Texte sind Poesie, die von Einsamkeit, Verlorenheit, verpassten Chancen und traurigen Liebenden erzählt. Seine Musik ist unverkennbar, aber nie vorhersehbar und erfindet sich immer wieder neu. Was Paul Simon macht, war immer wieder kommerziell erfolgreich, aber niemals Mainstream. Und die Songs, die er in all den Jahren zu Gold gemacht hat, sind deshalb universell und haben schon jetzt das ewige Leben („50 ways to leave your lover“ gibt es in einer umwerfenden Version von Miley Cyrus. Bitte unbedingt hören!).

Mein liebstes Album ist „Hearts and Bones“ aus dem Jahr 1983, das zwischen dem Konzert im Central Park und dem großen Erfolg von „Graceland“ eher ein Geheimtipp geblieben ist. Dieses Album ist leise, melancholisch und kunstvoll. Paul Simon berichtet in einem Interview, dass er im Bücherregal von Joan Baez einen Bildband über René Magritte entdeckt hatte und darin ein Foto fand, unter dem stand: „René and Georgette Magritte with their dog after the war“. Daraus ist der gleichnamige Song entstanden, der aus allen guten Stücken auf dieser Platte noch einmal herausragt. Traurig, komisch, surrealistisch. Vor zwei Jahren hat der achtundsiebzigjährige Simon diesen Song gemeinsam mit einem Kammerensemble in der Late Night Show von Stephen Colbert vorgetragen, und diese Performance ist zur Zeit mein liebstes Youtube-Video: altvertraut, neu arrangiert, die Stimme, die nun älter geworden ist und unverkennbar und groß bleibt.

Simon trägt das Lied vor – mit leiser Gestik. Es ist zum Weinen schön.

Ich habe es niemals geschafft, ein Konzert von Paul Simon zu besuchen. Ich war noch nicht in New York, aber ich habe es noch immer fest vor. Und nach Jahrzehnten habe ich wieder mit dem Gitarrespielen angefangen. Ich komme langsam voran, aber ich komme voran.

“No, it isn’t strange 
After changes upon changes 
We are more or less the same 
After changes we are 
More or less the same”

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  • Beitrag veröffentlicht:18. März 2021
  • Beitrags-Kategorie:Romane