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Stimmen in der Wüste

Driss Guerraoui, Anfang sechzig, wird nachts vor seinem Diner in der Mojave-Wüste überfahren. Jede Hilfe kommt zu spät, er stirbt noch auf der Straße. Seine Tochter Nora glaubt nicht an einen Unfall, sondern sie ist überzeugt davon, dass ihr Vater ermordet worden ist. Und so macht sich Nora an der Seite des Polizisten Jeremy auf die Suche nach der Wahrheit. Laila Lalamis Roman „Die Anderen“ ist mehr als ein Kriminalroman. Er erzählt vor allem von Fremdheit und Verlust und von der Macht familiärer Strukturen, die mal toxisch, mal heilend wirkt. 

Die Guerraouis haben Marokko vor Jahrzehnten verlassen und sich in der kalifornischen Wüste eine Existenz aufgebaut. Driss, der Philosophiestudent, übernimmt ein Lokal in der beliebten Touristenregion, um seiner Familie ein Leben in der ersehnten Sicherheit der Vereinigten Staaten zu ermöglichen. Doch der amerikanische Traum bleibt unerreichbar, die Familie wird mit Fremdenfeindlichkeit und Neid konfrontiert, die Ehe von Driss und Maryam ist konfliktreich, so dass die familiäre Stabilität in der neuen Heimat immer wieder fraglich erscheint. 

Lalami lässt die Figuren selbst erzählen. Jedes Kapitel verleiht einer Stimme Gehör: Nora selbst, ihrer Mutter Maryam, dem Polizisten Jeremy, der sich in Nora verlieben wird, Noras Schwester Selma, die zur Freude ihrer Mutter eine Bilderbuchkarriere und -familie vorweisen kann und unglücklich ist. Die Ermittlerin Coleman und ein Zeuge, der keiner sein will. Tatverdächtige sprechen und schließlich Driss selbst. 

Aus allen Erzählungen setzt sich ein Mosaik zusammen, das schließlich die Wahrheit ans Licht bringt, die Nora so hartnäckig gesucht hat, weil sich Driss‘ Tod so rekonstruieren lässt. Die Stimmen erzählen dem Leser ihre Geschichten. Ihre persönlichen Wahrheiten und Geheimnisse treten ans Licht und Lalami macht auf diese Weise den Leser zu einem Ermittler persönlicher Tragödien, die die Kriminalhandlung als solche überlagern.

Jede dieser Stimmen erzählt über den Verlust von Heimat – die familiäre, die emotionale, die geographische. Die Figuren spiegeln die Komplexität der amerikanischen Gesellschaft wider, sie sind eine Galerie der Heimatlosen, denen das gelobte Land der Vereinigten Staaten die Integration vorenthält bzw. die Erfüllung nationalistischer Wunschvorstellungen versagt. So legt der Roman den Finger in die Wunden der US-amerikanischen Gesellschaft. An einer Stelle benennt Nora das Dilemma ihrer Familie: 

„Ich hatte in dieser Stadt früh gelernt, dass die Brutalität eines Mannes mit Namen Mohamed nur selten in Zweifel gezogen wurde, seine Menschlichkeit dagegen immer erst bewiesen werden musste.“

Ich wünsche diesem Roman viele Leser, denn die Kombination aus Kriminalhandlung und Familiengeschichte, die vielschichtige Thematisierung von Fremdenfeindlichkeit, die funktionierende Konstruktion der diversen Erzähler und die Mojave-Wüste als symbolträchtiges Bühnenbild tragen über die eine oder andere Länge im Plot hinweg. 

Laila Lalami: Die Anderen
Aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger
Kein & Aber AG 2021
ISBN 978-3-0369-5833-0

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  • Beitrag veröffentlicht:15. Juni 2021
  • Beitrags-Kategorie:Romane / Spannung