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Der traurige Ort

Jeder, der nach Südtirol ins Vinschgau fährt, kennt dieses surreale Motiv: Ein Kirchturm, der auf 1500 Metern Höhe aus dem Wasser des Reschensees ragt. An dieser Stelle lag bis 1950 das Dorf Graun, das gemeinsam mit einem Teil des Dorfes Reschen einem Stausee weichen musste. Die Dörfer wurden geflutet, nachdem die Häuser gesprengt und ihre Bewohner enteignet und umgesiedelt worden waren. 

Nach dem Ersten Weltkrieg fiel das bislang österreichische Südtirol an Italien. Dessen faschistische Regierung leitete erste Baumaßnahmen für den Stausee in Gang, um damit Wasserkraft nutzbar zu machen. Die Bewohner der Dörfer Reschen und Graun gingen davon aus, dass der Wasserspiegel der vorhandenen Seen um fünf Meter steigen würde. Die tatsächlichen staatlichen Pläne wurden bewusst verschleiert: Nur ein Aushang am Gemeindehaus informierte in italienischer Sprache darüber, dass die Etsch und ihre Nebenflüsse auf 22 Meter gestaut werden sollten. Die Menschen in den Dörfern konnten diesen Aushang nicht zur Kenntnis nehmen, weil sie Italienisch nicht gut genug lesen konnten. Als nach dem Zweiten Weltkrieg ein finanzkräftiger Schweizer Energiekonzern in das Projekt einstieg, überschlugen sich die Ereignisse. Der Protest der Dorfbewohner, die nun von dem Ausmaß des Stausees erfuhren und sogar den Papst um Hilfe baten, blieb erfolglos. Eine unangekündigte Probestauung vernichtete die Ernte. Die Polizei musste daraufhin eingreifen, um die Mitarbeiter des Energiekonzerns vor dem Zorn der Bewohner zu schützen. Die Menschen aus den Dörfern wurden vor die Wahl gestellt: Gehen oder umgesiedelt werden. Die meisten entschieden sich dafür zu gehen, nachdem ein großer Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche dem Stausee weichen musste. Im Sommer 1950 wurde lediglich der Kirchturm von Graun von der Sprengung verschont und die Reste der Dörfer verschwanden im Wasser.

Mario Balzano erzählt in seinem Roman „Ich bleibe hier“ die Geschichte der Menschen aus Graun und jenes Stausees, der über 150 Familien in einem Akt staatlicher Willkür heimatlos gemacht hat. Dieses Buch ist zugleich eine Geschichte Südtirols zwischen den Weltkriegen und macht die Zerrissenheit und Machtlosigkeit dieser Region greifbar. Balzanos Romanheldin Trina ist eine fiktive Figur. Er lässt sie ihr Leben erzählen, klar und schmucklos, aber mit einer poetischen Tiefe, die der Erzählung der tragischen Ereignisse starke Eindringlichkeit verleiht. 

Trina spricht nicht zum Leser, sie wendet sich an ihre Tochter Marica und erzählt dieser ihr Leben: Ihre Jugend im Dorf Graun, das Zusammenleben auf dem elterlichen Bauernhof, die Begegnung mit Erich, den Trina heiraten wird und mit dem sie die Kinder Michael und Marica bekommt. Trina wird Lehrerin und unterrichtet im Dorf. Die faschistische Regierung treibt die Italianisierung Südtirols gewaltsam voran und hat die Lehre in deutscher Sprache verboten. So unterrichten Trina und ihre Freundinnen die Kinder heimlich in Scheunen oder auf Dachböden. Trinas Freundin Barbara wird dafür schließlich verhaftet und Trina wird sie nicht mehr wiedersehen. Erich und Trina kämpfen mit den anderen Bewohnern gegen den geplanten Stausee, es kommt zu ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die sogenannte Option in Südtirol spaltet 1939 das Dorf: Mussolini und Hitler haben eine Wahlmöglichkeit für die Bevölkerung ausgehandelt, nach der sich die Bewohner entweder für die Ausreise ins nationalsozialistische Deutschland oder für den Verbleib in Italien entscheiden können. 

Für Trina und Erich führt dies zu einer familiären Katastrophe: Ihre Tochter Marica, noch ein Schulkind, verlässt gemeinsam mit ihrer Tante und ihrem Onkel heimlich das Dorf, um in Deutschland das erhoffte bessere Leben mit besseren Bildungsmöglichkeiten zu finden. 

Dies ist der Wendepunkt für die Familie, der Moment des absoluten und nicht mehr gut zu machenden Verlusts, der die Weichen für alles stellt, was später geschehen soll. Das Verlassenwerden durch das eigene Kind ist der größte anzunehmende Schmerz, den Trina und Erich nicht verwinden. Die Beschreibung, wie beide Elternteile mit der Sehnsucht nach dem Kind und der Trauer umgehen, gelingt Balzano in erschütternden Szenen ohne jede Rührseligkeit. Das ist große Kunst.

Die verwaiste Familie, die keine mehr ist, bleibt in Graun. Nach dem Sturz Mussolinis marschiert 1943 die Wehrmacht in Südtirol ein und stellt die Bevölkerung unter die Wehrpflicht für Hitler-Deutschland. Michael wird zum begeisterten Anhänger, während Erich desertiert und mit Trina in die Berge flieht, wo sie mit anderen Flüchtigen Schutz vor den deutschen Truppen suchen. Die atemlose Romansequenz, in der Trina und Erich durch die verschneite Bergwelt fliehen, ist für mich die stärkste Passage und ich habe die Bilder, die beim Lesen entstanden sind, noch immer lebhaft vor Augen. Nach dem Ende des Krieges kehren beide ins Dorf zurück. Der Kampf gegen den Stausee wird nur wenig später eskalieren und vergeblich sein. Am Ende ihrer Erzählung blickt die alte Trina aus dem neuen Dorf Graun, das oberhalb des Sees angelegt ist, auf ihr Leben zurück: 

„Im Laufe weniger Jahre ist der aus dem Wasser ragende Kirchturm zu einer Touristenattraktion geworden. Die Sommerfrischler staunen zuerst und wandern dann unbekümmert weiter. Sie machen Fotos mit dem Turm im Hintergrund und setzen alle das gleiche blöde Lächeln auf. (…) Als hätte es unsere Geschichte nicht gegeben.“

Ich habe das Buch in diesem Sommer auf meiner Reise nach Italien gelesen. Auf der Rückfahrt blieb ich am Reschensee stehen, habe wie alle Touristen dieses Foto aufgenommen, aber mir war nicht nach Lächeln zumute. Ich habe in dem Moment, in dem ich auf den Auslöser gedrückt habe, an Trina gedacht. Es war ein trauriger Augenblick an einem traurigen Ort. 

Balzanos Roman ist eine so große wie prägnant erzählte Geschichte über Verlust, über das Verlieren und ein Diskurs darüber, ob und wie ein Leben damit möglich sein kann. Es zeichnet Mario Balzano aus, dass er diese Geschichte eindrucksvoll, aber fern jeder Sentimentalität erzählt, indem er Trina eine Stimme gibt. Trina ist für mich die eindrucksvollste Romanheldin, der ich in diesem Jahr begegnet bin. Sie ist unkonventionell und mutig. Aus Stärke und Schmerz resultiert eine Nüchternheit und stolze Resignation, die sie schlussendlich zu einer ewig Unbeugsamen machen:

„Vorwärts gehen, wie Mutter zu sagen pflegte, das ist die einzige Richtung, die erlaubt ist. Sonst hätte Gott uns die Augen seitlich gemacht. Wie den Fischen.“

Wie lebe ich weiter, wenn die Welt aus den Fugen gerät? Diese Frage ist in dieser Zeit von trauriger Aktualität. „Ich bleibe hier“ ist zudem ein Buch über den Verlust von Heimat und lenkt den Blick auf ein Kapitel europäischer Geschichte, das nur wenige Leser im Blick haben mögen. 

Es ist gut, dass dieses Buch ein Bestseller geworden ist. „Ich bleibe hier“ war für mich eines der intensivsten Leseerlebnisse dieses Jahres. Ich wünsche diesem Buch, dass es vom Best- zum Longseller wird, weil es nicht nur universelle Denkanstöße gibt, sondern ein herausragendes Beispiel dafür ist, wie Geschichte eindringlich erzählt und erfahrbar werden kann.

Mario Balzano: Ich bleibe hier.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug.
Diogenes Verlag AG Zürich 2020
ISBN 978-3-257-07121-4

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