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“Dieses schreckliche Wort“

Der November ist der Monat des Totengedenkens. Er neigt sich bereits dem Ende zu und so findet in den letzten Tagen dieses Monats noch ein November-Buch seinen Platz bei ligusterbooks, das ich mit Vergnügen, Traurigkeit, mit Faszination, manchmal mit einem Lachen, manchmal unter Tränen gelesen habe und das ich Euch nahelegen möchte, weil es Tod, Sterben und Trauer auf unkonventionelle Weise verhandelt: „Lincoln im Bardo“ von George Saunders.

Im Buddhismus bezeichnet der Begriff Bardo einen Zustand, der den Übergang vom Leben zum Tod markiert und an dessen Ende die Erleuchtung steht. Einen solchen Bardo siedelt Saunders auf einem Friedhof in Georgetown, Washington D. C. im Februar 1862 an. Willie, der elfjährige Sohn des amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln ist gerade zu Grabe getragen worden und die Nacht zieht heran. Saunders ruft ein Ensemble von Geistern zu Wort, die von ihrem Leben und Sterben erzählen und die einen Querschnitt durch die vom Bürgerkrieg gezeichnete amerikanische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts präsentieren. Sie harren auf dem Friedhof aus und beweinen und beklagen den Verlust ihres alten Lebens. Allen voran Hans Vollman, der noch vor dem Vollzug der Ehe mit seiner um Jahre jüngeren Frau durch einen herunterfallenden Balken gestorben ist, Roger Bevins III, der seinem Leben ein Ende setzte, nachdem ihm sein Geliebter verschmäht und aus Scham verhöhnt hat, und Reverend Everly Thomas, der allen anderen im Bardo mit seinem Wissen über das, was auf den Bardo folgt, um Weiten voraus ist. 

Diese nehmen den kleinen Willie in Empfang, der nicht weiß, wie ihm geschehen ist und voller Hoffnung darauf wartet, dass seine Eltern ihn wieder abholen. Und tatsächlich erscheint in jener Nacht Lincoln selbst auf dem Friedhof, gebeugt von der Trauer um seinen Sohn und auf der Suche nach dessen Nähe. 

Saunders erzählt die Geschichte mittelbar. Der Text ist ein Spiel der einzelnen Geisterstimmen und mit diesen im Wechsel montiert Saunders zahlreiche Zitate aus zeitgenössischen Quellen zu einem Panorama der Tage, die sich um den Tod von Willie Lincoln ranken. Dieser Gang des amerikanischen Präsidenten ist historisch verbrieft. 

Lincoln besucht seinen toten Sohn und nimmt ihn noch einmal in die Arme. Der Besuch des Lebenden versetzt die Bewohner des Bardo, die ihren Tod noch nicht begriffen haben, in Aufregung und erfüllt sie mit der Hoffnung, nicht vergessen zu sein und wenigstens Willie Lincoln zurück ins Leben schicken zu können. Vollman und Brevis fahren als Geister in den Präsidenten und erhaschen ein Blick in die zeitgenössische Lebenswirklichkeit: 

„Viel Zeit ist vergangen. Es gibt jetzt einen Staat, der Minnesota heißt. 

Wir sind im Krieg, sagte Mr. Vollman. Im Krieg gegen uns selbst. Die Kanonen haben sich beachtlich weiterentwickelt.“ 

Soldaten biwakieren im Kapitol, sagte ich. 

Das haben wir alles gesehen, sagte Mr. Vollman. 

Als wir da in ihm drin waren, sagte ich.“

Und sie werden Zeugen der tiefen Trauer des Vaters Abraham Lincoln um sein totes Kind:

„Alle Geschenke sind vorübergehend. Ich gebe dieses nur unwillig zurück. Und danke dir dafür. Gott. Oder Welt. Wer immer es mitgegeben hat, ich danke dir demütig und bete dafür, dass ich mich ihm gegenüber anständig verhalten habe und, wenn ich voranschreite, mich ihm gegenüber auch weiter anständig verhalte. Liebe, Liebe, ich weiß, was du bist.“

Als Lincoln sich zum Gehen wendet, „beseelen“ ihn die Geister des Bardo, um ihn aufzuhalten und es glückt für einen einzigen Augenblick die vollkommene Symbiose, die Einheit, die für die zeitgenössiche amerikanische Bevölkerung in der Realität des wütenden Krieges nicht erreichbar ist: 

„Was für ein Vergnügen, da drinnen zu sein. Vereint zu einem gemeinsamen Zweck. Da drinnen und auch in den anderen, wodurch wir kurze Einblicke in den Geist der anderen empfingen und auch in Mr. Lincolns Geist. Wie gut es sich anfühlte, das zusammen zu tun.“

Die Rettung findet nicht statt. Die Einheit ist auch im Bardo nicht von Dauer und erweist sich als „Schimäre“. Als letztes fährt Willie Lincoln in seinen Vater und erfährt dort, was mit ihm geschehen ist:

„Tot!, rief der Knabe fast freudig und stolzierte in die Mitte des Raumes. Tot, tot, tot! Dieses Wort. Dieses schreckliche Wort.“

Dies spricht Hans Vollman, der nun wie alle anderen erkennen muss, dass er nicht krank ist, dass es kein Zurück mehr gibt, dass sie alle bereits gestorben sind. Die Geister des Bardo müssen ihren Tod akzeptieren. Die „Materienlichtblüte“, das Synonym für den Übergang aus dem Bardo in die endgültige Endlichkeit, holt Willie Lincoln mit einem Feuerknall. Zurück bleibt der Präsident, der in dieser Nacht die Erkenntnis gewinnt, dass alle Menschen die Erfahrung von Verlust, Schmerz und Leid eint und der aus der „Beseelung“ durch die Geister mit einer Entschlossenheit hervorgeht, die sein Handeln im weiteren Verlauf des Bürgerkriegs bestimmen wird, 

„damit nicht immer mehr dieser Jungen, von denen jeder Einzelne einst jemandes Liebling gewesen war – damit wir diese Jungen nicht mehr meucheln mussten.“

Und so verlassen auch die Geister nach und nach den Bardo. Roger Brevins III schließt den Text mit Worten, die eine Erklärung des Todes als Aufhebung der Zeit darstellen und die Ewigkeit als Augenblick in Aussicht stellen:

„Dies, wie alles, hat als Nichts angefangen, schlummernd in einer enormen Energiesuppe, aber dann fanden wir Namen dafür und Liebe und brachten auf diese Weise alles voran.

Und müssen es nun verlieren.

Liebe Freund, das schicke ich euch, bevor ich gehe, als spontanen Gedankenschwall von einem Ort, wo die Zeit langsamer wird, dann stehenbliebt und wo wir auf ewig in einem einzigen Augenblick leben können.“

George Saunders ist in diesem Roman, der 2017 den Man Booker Prize erhielt, gelungen, Trauer und Tod zu thematisieren, ohne rührselig zu sein: Saunders tritt als Erzähler nicht in Erscheinung, die Figuren und Quellen sprechen für sich. Und Saunders bricht Szenen durch Mittel der Groteske und durch Drastik – dies mag manche Leser befremden, ich habe sie als befreiend wahrgenommen. Saunders erzählt Geschichte als spirituelles Drama, ohne in schaurige Verquastheit oder esoterische Spielerei zu verfallen. Zugleich bietet er klare Bilder an, um Verlust und Sterben verstehbar oder zumindest denkbar zu machen. Die Idee der Ewigkeit als Augenblick ist für mich ein tragfähiges Sinnangebot, dass mich in diesem November getröstet hat. 

George Saunders: Lincoln im Bardo
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert
btb Verlag 2019
ISBN 978-3-442-71897-9

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  • Beitrag veröffentlicht:27. November 2021
  • Beitrags-Kategorie:Romane