New York am Ende des 19.Jahrunderts: Susanna Faesch, Mitte Vierzig und begnadete Malerin, macht sich mit ihrem Sohn Christie auf den Weg nach Westen, um Sitting Bull, den Häuptling der Sioux zu treffen. Unter dessen Führung hatten die amerikanischen Ureinwohner 1876 am Little Big Horn die US-Armee vernichtend geschlagen. Ein gutes Jahrzehnt später ist aus dem charismatischen Stammesführer eine tragische Gestalt geworden. Die Ausrottung der Bisons hat ihn und sein Volk ins Reservat gezwungen. Sitting Bull zieht mit einer Road-Show durch die Lande – die er für eine Aufklärungskampagne über die Verbrechen an den Ureinwohnern hält, die aber in Wirklichkeit eine Western-Revue zur Unterhaltung der Städter ist und ihn und seine Leute als Zirkusattraktion vorführt.
„Den Mist schauen wir uns nicht an“ – Susannas Veto ist erfolglos, Christie gelingt trotzdem, die Show zu besuchen und er wird nahezu süchtig nach dem Zauber des Wilden Westens. Alle Ablenkungsmanöver nützen nichts. Und nachdem Susanna ein paar Jahre später dank eines Erbes finanzielle Freiheit erlangt, macht sie sich mit Christie auf den Weg ins Reservat zu Sitting Bull.
Susanna Faesch hat es wirklich gegeben. Die historische Susanna, die sich auch Caroline Weldon nannte, wird auf Wikipedia als Aktivistin bezeichnet, die sich für die Rechte der amerikanischen Ureinwohner stark machte. Sie lebte mit ihnen im Reservat und unterstützte sie im Kampf gegen die Enteignung durch die US-Regierung. Alex Capus erzählt in seinem Roman „Susanna“ die Geschichte dieser Frau, deren unkonventionelles Leben beeindruckt.
Susanna, gebürtige Schweizerin wandert als Jugendliche mit ihrer Mutter in die Schweiz aus, nachdem diese sich in den Kollegen ihres Mannes verliebt hat und diesem nach New York folgt. Susanna und ihre Mutter lassen alles hinter sich: den Mann und Vater, die Brüder, das Zuhause. Wie auf einem weißen Blatt schreiben sie ihr Leben neu. Susanna ist mit einem herausragenden Zeichentalent gesegnet, und ihre Porträts machen sie bald bekannt. Sie heiratet, begegnet anderen Männern, empfängt ihren Sohn Christie von einem anderen verheirateten Mann und zieht den Jungen schließlich allein groß.
Alex Capus erzählt aus dem Leben dieser unerschrockenen und deshalb starken Frau so üppig und facettenreich, dass ich Susannas Geschichte wie einen Film vor mir gesehen habe. Immer wiede ruft sich Capus als Erzähler in Erinnerung und vergegenwärtigt seinen Lesern, dass hier eine historisch belegte Biographie skizziert und poetisch angereichtert wird:
„Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ob diese Ereignisse ohne Belang gewesen wären für Susanna Faesch. Tatsächlich aber hätte eine winzige Änderung genügt – eine Gewehrkugel, deren Flugbahn anders verlief, ein paar Bakterien, die sich dahin und nicht dorthin ausbreiteten, ein Skorpion, der sich in einen Soldatenstiefel verkroch, oder ein Frauenherz, das sich an Karl Valentiny oder Lukas Faesch verlor -, und die Geschichte wäre ganz anders verlaufen.“
Fakten und Phantasie funktionieren hier im Zusammenspiel. Es ist ein reichhaltiges, sattes und farbenreiches Buch: Capus erzählt nicht nur von der fabelhaften Susanna, er schildert auch ein Auswanderer-Leben in New York. Er zeichnet ein Panorama des Big Apple am Ende des 19. Jahrhunderts und rückt außerdem das Schicksal der amerikanischen Ureinwohner in den Fokus. Dies alles tut der Autor auf weniger als 300 Seiten und es gelingt so kurzweilig, dass dieser Roman eine wahre Lesefreude ist.
An einer Stelle macht es sich Alex Capus jedoch etwas zu einfach, nämlich dann, wenn er vom Siegeszug der Elektrizität berichtet oder von „Taschengeräten“ spricht und Handys meint. Die Folgen der Technisierung und Maschinisierung für das Individuum sind bekannt. Aber wenn Capus auf die Gier nach Rendite verweist, die „Geräte, die auch tagsüber Strom verbrauchten“ auf den Markt geworfen hat und hier als Beispiele u. a. elektrische Bügeleisen und Kochhherde nennt, dann klingt er für einen Moment so altherrenhaft, wie er es gar nicht ist.
Ein Dank geht am Ende noch an Karin, die mich darauf hingewiesen hat, dass Capus zum richtigen Zeitpunkt aufhört, die Geschichte von Susanna zu erzählen. Diese nimmt nämlich in der tatsächlichen Biographie eine tragische Wendung. Auch dies entspricht dem souveränen Erzähler Capus, der bewusst den Scheinwerfer setzt und die zu erzählenden Kapitel aus der historischen Realität für den Zweck einer nahezu wundersamen Geschichte gewählt hat.
Alex Capus: Susanna
Carl Hanser GmbH & Co. KG 2022
ISBN 978-3-446-27396-2