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„Keine Aufgabe für Frauen“

Baltimore im Jahr 1966: Maddie Schwartz ist Ende dreißig und ihr Leben verläuft in so gesicherten wie engen Bahnen. Ihr Mann Milton ist ein erfolgreicher Anwalt, ihr Sohn Seth ist fast erwachsen. Maddie führt erfolgreich einen koscheren Haushalt nach Miltons Wünschen und kann aus dem Stehgreif Abendessen für spontan eingeladene Gäste arrangieren. Alles könnte perfekt sein, doch sie fühlt sich, „als lebte sie in einem dieser Schuhkarton-Dioramen, die Seth in der Grundschule gebastelt hatte (…) und inzwischen löste sich der Deckel und der Karton fiel langsam auseinander.“ Der Besuch ihrer College-Liebe, mittlerweile ein erfolgreicher TV-Moderator, löst einen Erdrutsch aus. In der Bilanz ihres Lebens findet Maddie nach diesem Abend zu viele nicht erfüllte Träume und nie umgesetzte Pläne. Kurzentschlossen wirft sie ihre bisherige Existenz über den Haufen, reicht die Scheidung ein und zieht in ein kleines Apartment in einem der schlechteren Viertel der Stadt. Nachdem Maddie vergeblich versucht hat, ihren Verlobungsring zu versetzen, täuscht sie kurzerhand einen Einbruch vor, um die Versicherungssumme zu kassieren und wieder zu Geld zu kommen. So lernt sie den jungen schwarzen Streifenpolizisten Ferdie kennen, mit dem sie eine leidenschaftliche Affäre beginnt. Als ein Mädchen aus Maddies jüdischer Gemeinde vermisst wird, macht sie sich mit einer Bekannten auf eigene Faust auf die Suche nach dem Kind, da in den organisierten Suchtrupps nur Männer erwünscht sind – „Das ist keine Aufgabe für Frauen“ – und findet tatsächlich den Leichnam des Mädchens. Weil sie von Ferdie Informationen erhält, die nur die Polizei kennt, kommt sie bald auf die Idee, ihr Wissen zu nutzen:

„Sie wollte etwas bedeuten. Sie wollte, dass die Welt anders war, weil sie geboren wurde. Nur Seths Mutter zu sein, war nicht mehr genug. Selbst, wenn er der erste jüdische Präsident der Vereinigten Statten werden würde oder ein Arzt, der den Krebs besiegte, seine Errungenschaften würden diese schreckliche Sehnsucht nicht stillen können. Sie brauchte etwas Eigenes, etwas, was über Ferdie und ihr Schlafzimmer hinausginge, von dem aus man die Kathedrale sehen konnte.“

Maddie nimmt zu dem Tatverdächtigen, dem der Mord an dem Mädchen angelastet wird, Kontakt auf, und gibt ihr Insider-Wissen an einen Journalisten weiter, um so einen Job bei der örtlichen Zeitung zu bekommen. Maddies Plan geht auf, sie arbeitet sich nach oben und stößt schon bald auf die Geschichte einer zweiten Toten: Cleo Sherwood, eine junge Schwarze, ledige Mutter, wird tot im Brunnen eines Parks gefunden. Und niemand außer Maddie interessiert sich wirklich für sie. Schon bald hat Maddie die richtige Spur aufgenommen, die sie in die Unterwelt der Stadt führt…

Maddie Schwartz, gerade noch perfekte Hausfrau und etabliertes Mitglied der jüdischen Gemeinde, sprengt alle Grenzen, die ihr die Gesellschaft auferlegt. Sie verlässt ihre Familie, nimmt sich einen jungen Geliebten, lebt sexuelle Wünsche aus, begeht Versicherungsbetrug und drängt sich mit unerschrockener Dreistigkeit in den Job ihrer Träume. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist dies für eine Frau ein ansehnliches Register unverzeihlicher Vergehen, während es für Männer seinerzeit der gängige Weg nach oben gewesen sein dürfte. Genau das zeichnet Laura Lippmans Heldin aus: Maddie holt sich das, was sie will, wie die Männer ihrer Zeit. Sie tut das mit einer Chuzpe und Nonchalance, die fasziniert, auch wenn sie unweigerlich illoyal gegenüber ihren Geschlechtsgenossinnen agiert, denn aus Solidarität mit Frauen tut Maddie nicht viel:

„Nein, mein erster Fehler war zu versuchen, eine Frau dafür zu gewinnen, mir zu helfen. Ich bin besser mit Männern. Ich war schon immer besser mit Männern.“

Auf dem Weg zum Ziel – Maddie wird am Ende der Geschichte als erfolgreiche Journalistin ihr Leben zurückblicken – hinterlässt Maddie viele Scherben. Aber genau diese Scherben spiegeln das Dilemma einer moralisch verkrusteten Gesellschaft wider, die sich in den sechziger Jahren eingerichtet hat und in der Maddie geschickt die verfügbaren Waffen der Männerwelt nutzt, weil dies der einzige Weg ist, der sie zu Macht und Erfolg bringt. Wie im vorletzten Blog-Beitrag gilt auch hier: „It’s a man’s world“. 

Ich habe zuvor nur einen Kriminalroman von Laura Lippman aus ihrer Tess-Monaghan-Reihe gelesen, die ebenfalls in Baltimore spielt. Lippmans dynamischer Erzählstil, ihr lakonischen Witz und ihre Ironie, die mich an Dorothy Parker erinnert, spricht mich auch hier wieder an

und lässt mich gerade zu einem großen Fan der Autorin werden. 

Was diesen Roman für mich wirklich hervorhebt, ist seine wohlkomponierte, vielschichtige Erzählstruktur: Lippman lässt die Figuren in einer Art Reigen zu Wort kommen. So entsteht ein komplexes Spektrum, das gleichsam einen Panorama-Blick auf das Geschehen ermöglicht. Während in einem Kapitel Maddies Geschichte von einem Erzähler geschildert wird, kommt im darauffolgenden eine Figur aus dem soeben erzählten Geschehen zu Wort und schildert das Erlebte in der Ich-Perspektive. Die dritte, übergeordnete Erzählinstanz ist Cleo Sherwood, die in direkter Rede Maddie anspricht, belehrt, zurechtweist, erklärt. Beide Frauen sind starke und prägnante Figuren, die einander ebenbürtig sind. Sie entgehen der Rolle, für die sie sozial determiniert sind, und riskieren den Ausbruch – mit Erfolg. Ein Buch wie ein großer Kino-Abend, nach dem man sich noch in der gesamten darauffolgenden Woche zurücksehnt. Ich kann es nicht erwarten, noch mehr von Laura Lippman zu lesen – eine klare Lese-Empfehlung für Krimi-Leser und Leserinnen, die abseits des Mainstream und fern jeder Effekthascherei neue Stimmen entdecken wollen. 

Laura Lippman: Wenn niemand nach dir sucht.
Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger.
Kampa Verlag AG 2021
ISBN 978-3-311-12026-1

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  • Beitrag veröffentlicht:10. April 2023
  • Beitrags-Kategorie:Romane / Spannung