Wäre Julia Schochs „Biograhie einer Frau“ ein Lied, dann wäre es für mich Joni Mitchells „Both sides“. Das Leben in drei Bänden. In jedem Buch steht ein anderes krisenhaftes Ereignis im Mittelpunkt, das die namenlose Erzählerin von allen Seiten betrachtet, gleichsam abklopft und damit die eigene Existenz reflektiert.
Die Erzählerin ist Autorin, und auf einer Lesung begegnet sie einer Frau, die sich als ihre Halbschwester vorstellt. Dieses „Vorkommnis“, nämlich die Erkenntnis, dass die Eltern die erstgeborene Tochter des Vaters verschwiegen haben, löst in der Erzählerin eine Krise aus und lässt sie ihr Leben und ihre Wahrnehmung komplett infrage stellen. Der zweite Band „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ beginnt mit dem Entschluss, den Ehemann zu verlassen, diesen ursprünglich sehnsüchtig und abhängig geliebten Mann, neben dem die Frau mittlerweile verbindungslos existiert. Sie durchwandert die Erinnerung an die bedingungslose Liebe der ersten gemeinsamen Jahre, betrachtet den Wandel in die Funktionsgemeinschaft durch die Geburt der Kinder, die Wortlosigkeit, die formale Koexistenz, um schließlich wieder einen Zugang zur Liebe zu finden.
Im dritten Band „Wild nach einem wilden Traum“ passiert eine Affäre. Die Frau beginnt während eines Auslandaufenthaltes ein Verhältnis mit einem anderen Schriftsteller, „dem Katalanen“. Sie erinnert sich außerdem an eine Begegnung in ihrer Kindheit: In einer ostdeutschen Garnisonsstadt trifft sie einen Soldaten, der sich immer wieder von der Truppe entfernt, um in den Wäldern vom Uniformierten zum Individuum zu werden. Er spricht das titelgebende Zitat, als ihm die Erzählerin verrät, dass sie schreiben will: „Ich bin sicher, du schaffst es, bestimmt. Man muss wild danach sein. Wild nach einem wilden Traum.“ Die Erinnerung an ihren ureigenen Plan und die Affäre mit dem Katalanen, die sie aus den gewohnten familiären Strukturen löst, bringen die Erzählerin zurück ihrem Lebenskern.
Die Erzählerin ist das Alter Ego der Autorin. Julia Schoch schreibt Autofiktion. Sie setzt Teile ihrer Biographie mit erdachten Passagen und möglichen Strukturen zusammen. Autofiktion ist aktuell und eine mutige Angelegenheit. Autofiktion wird manchmal nachgesagt, eine Mode zu sein. Im Fall von Julia Schoch ist sie für mich als Leserin ein exemplarisches Beispiel, wie funktionierende Selbstreflektion möglich sein kann. So könnte es aussehen, wenn ich meine Erinnerungen, meine Wertvorstellungen, mein Lebensmodell auf den Prüfstand stelle – nicht um zu verzagen, sondern um ein Stück Wahrheit zu finden.
Julia Schoch erzählt einen Tiefseetauchgang und stellt vor sich selbst ihre Gewissheiten und Überzeugungen auf die Probe. Sie reflektiert sachlich. Die Sprache ist klar und verirrt sich nicht in Weitschweifigkeit. Die Figuren sind namenlos. Das gibt ihnen einen Rollencharakter und Schutz. Wörtliche Rede oder Dialoge sind rares Gut. In einer kontinuierlichen Innensicht kann man sich als Leser verlieren oder zum Voyeur werden. Hier nicht: Ich habe die Biographie nicht als private Offenbarung der Autorin verstanden, sondern als Anleitung zum Zweifel: Sind die Dinge so, wie ich sie zu sehen glaube? Und bin ich die, die ich zu sein glaube?
In einem Interview in der Süddeutschen Zeitung sagt Julia Schoch:
„(…) zurechtgemachte Erinnerungen sind ein Schutzmechanismus, weil man sich im Gemütlichen und Geordneten einrichten möchte. Das Bedürfnis kenne ich gut, im Schreiben arbeite ich allerdings dagegen.“
Was ist die Wirklichkeit und was ist die Wahrheit? Was habe ich gelebt, was erinnere ich mir zurecht? Diese drei Bände sind für mich schon jetzt die Bücher meines Lesejahres 2025. Sie sind für mich ein hilfreicher Gegenentwurf zur plakativen Selbstschau, die ich in sozialen Medien vielerorts leid bin. Sie sind ein Dokument dessen, was Literatur kann und wie sie Selbstwahrnehmung und -erkenntnis möglich macht. Die Beschreibung der langjährigen Liebesbeziehung im zweiten Band ist zudem eine große Geschichte über das Wunder des Lebens:
„Gelegentlich, wenn ich einen Film sah oder ein Buch las, wurde mir die Welt für kurzen einen Moment wieder weit. Ganz ähnlich wie der Tod erinnerte mich auch die Kunst daran, wie engherzig meine Gedanken und Obsessionen waren, wie kleinlich meine Auffassungen. Dann sah ich die Liebe wieder vor mir. Ich wusste wieder, wozu sie da war. Nicht, dass ich es hätte ausdrücken können. Aber ich wusste es. Die erzählten Geschichten führten mir vor Augen, wie intensiv und groß und einmalig das Leben ist, wenn man liebt. Und dass ich längst Teil dieses unergründlichen tiefen Strudels war.“
Julia Schochs „Biographie einer Frau“ ist eine Leseempfehlung für alle, die den Mut haben, ihre Wahrheiten zu hinterfragen, und damit für Frauen und Männer. Es sind Bücher für alle, die alte Dinge neu sehen wollen. Der Buchhandel könnte es mit leichter Hand in den Bereich „Lebenshilfe“ stellen, aber zu meiner großen Freude hat Julia Schoch das Regal der Bestseller erreicht. Es sind drei große Bücher – oder, um es mit Joni Mitchell zu sagen: „Well, something’s lost, but something’s gained in living every day“
Julia Schoch:
Das Vorkommnis
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 2022
ISBN 978-3-423-29021-0
Julia Schoch:
Das Liebespaar des Jahrhunderts
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 2023
ISBN 978-3-423-29021-0
Julia Schoch:
Wild nach einem wilden Traum
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 2025
ISBN 978-3-423-29021-0