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„Wir sind alle Nachtgäste an einem fremden Ort“

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienen in Kanada oder Kopenhagen mehr Bücher von isländischen Autoren als in Reykjavik. Nachdem Island fast siebenhundert Jahre unter zunächst norwegischer, dann dänischer Herrschaft gestanden hatte, erlangte es nach dem Ersten Weltkrieg Schritt für Schritt seine Eigenstaatlichkeit zurück. Island konnte nun eine unabhängige literarische Identität entwickeln und sich der Moderne mehr und mehr öffnen.

Halldór Laxness (1902-1998) war der erste isländische Autor, der internationale Bekanntheit und Weltruhm erlangte. 1955 erhielt er den Literaturnobelpreis. Sein Biograph Halldór Gudmunsson bezeichnet Laxness als den letzten Nationaldichter Europas, der als solcher in Island „die Funktion von Nachrichtenagentur, Ratgeber und Seismograph“ einnahm, als dieses Phänomen in anderen westlichen Staaten Europas bereits wieder verschwunden war.

Halldór Laxness, der seinen Nachnamen nach dem elterlichen Hof unweit von Reykjavik selbst gewählt hat, war von Kindheit an ein nahezu besessener Leser und Autor. Er erschuf ein umfangreiches Werk aus Romanen und Erzählungen, das ein Kaleidoskop der isländischen Geschichte und zugleich Spiegel internationaler literarischer, politischer und philosophischer Strömungen des 20. Jahrhunderts ist. 

Laxness reiste intensiv, war regelmäßig mit seiner Familie in der Welt unterwegs, um immer wieder zurückzukehren nach Island. Seine weltanschauliche Entwicklung ist wendungsreich, erscheint mitunter widersprüchlich und verzeichnet Laxness` beständige Suche nach einer besseren Welt: In den Zwanzigerjahren konvertiert er zum Katholizismus, hält sich in Klöstern auf und besucht eine Jesuitenschule. 1929 erlebt er in den USA den Schwarzen Freitag und erklärt rückblickend, dass ihn sein USA-Aufenthalt zum Sozialisten gemacht hat. Er ist Gründungsmitglied der Sozialistischen Partei in Island, bereist in den Dreißigerjahren die Sowjetunion und verehrt Stalin, was ihm den Zorn vieler Landsleute und die Kürzung seines Autorenstipendiums in Island beschert. 1956 wendet sich Laxness angesichts des sowjetischen Einmarschs in Ungarn und der Bekanntmachung von Stalins Verbrechen von der Sowjetunion ab und setzt sich mit Petitionen und Gnadengesuchen für Dissidenten ein: „Der kämpferische Sozialist wurde zum humanistischen Skeptiker“ wie Halldór Gudmundsson schreibt.

Laxness‘ Werk ist tief in der isländischen Tradition verankert und zugleich als Weltliteratur zu lesen. „Atomstation“, neben der „Islandglocke“ sein bekanntester Roman, erschien 1948 und thematisiert die US-amerikanische Militärpräsenz auf Island, die über Jahrzehnte die isländische Gesellschaft spaltete. Die isländische Regierung hatte den USA nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs das Recht zugesichert, auf der Insel für einige Jahre einen Truppenstützpunkt zu unterhalten. Regierungsgegner gingen auf die Barrikaden. Es kam zu Straßenunruhen in Reykjavik, denn man fürchtete den „Verkauf des Landes“. Islands Beitritt zur NATO erfolgte zwei Jahre später und wurde als Bestätigung dieser Befürchtung gedeutet. Die amerikanischen Militärstützpunkte blieben bis ins 21. Jahrundert in Island bestehen.

„Atomstation“ erzählt von dem Bauernmädchen Ugla, die aus dem Nordland nach Reykjavik kommt, um im Haushalt des Abgeordneten Bui Arland als Hausmädchen zu arbeiten. Sie lernt im Haus der Arlands das ausschweifende dekadente Leben der gehobenen Gesellschaft Reykjaviks kennen, wo die Amerikaner ein- und ausgehen und Orientierungslosigkeit und Entfremdung um sich greifen. Ugla ist in die Stadt gekommen, um Harmonium spielen zu lernen. Sie geht als neugierige, unbefangene Beobachterin durch die Stadt und taucht in Subkulturen ein, die Gegenentwürfe zur Bourgeoisie sind. 

Zentrum ist das Haus des Organisten, der Ugla im Harmoniumspiel unterrichtet und eine Art anarchistischen Salon führt. Der Organist hinterfragt unaufhörlich Tradition, Werte und Moral und sein offenes Denken steht im Gegensatz zur Begrenzung der bürgerlichen Scheinmoral im Haus des Abgeordneten.

Ugla verliebt sich in einen schüchternen Polizisten und schließlich in Bui Arland, dessen Familie auseinanderbricht. Ihr Kind bringt Ugla jedoch allein hoch oben im Nordland zur Welt und lässt es dem grünen Hügel weihen. 

Atomstation ist zunächst ein Text seiner Zeit: Die zeitgenössische Thematik des Kalten Krieges, Anti-Amerikanismus, Kritik am Bürgertum, die Handschrift der Groteske. Was „Atomstation“ zu einem zeitlos aktuellen Text macht, ist die unbeirrbare Suche nach Unabhängigkeit und Freiheit, die hier verhandelt wird: Die Unabhängigkeit Islands und die Freiheit des Organisten, die unbeirrbare Eigenständigkeit Uglas. 

Dieses Bauernmädchen aus dem Norden ist eine Frauenfigur von beeindruckender Stärke. Ugla ist Islands Ideal – eine, die nicht zu kaufen ist:

„(…) ich bin das, was ich bin, ein Kind vom Land, ein Dienstmädchen, eine aus dem Volk; nichts als die Sehnsucht danach, ein Mensch zu werden, etwas zu wissen, etwas selbst zu können, nicht für mich bezahlen zu lassen, selbst für mich zu zahlen.“

Laxness schreibt in einer dichten und klaren poetischen Sprache. Seine Sätze wollen langsam gelesen werden, ich wiederhole sie und gehe jetzt noch einmal durch die Seiten. Viele Stellen sind markiert. Passagen, die ich immer wieder lesen möchte, mit Bleistift angekreuzt:

„Ich hatte schon längst angefangen, die Tage zu zählen, bis ich wieder von zu Hause, wo ich fremd bin, wegkomme, um in die Ferne zu gehen, wo ich zu Hause bin. Noch warte ich eine Weile in Abschiedsgedanken und lausche auf die Stille, die den Göttern den Schlaf raubte; und die Dämmerung senkt sich auf die Pferde herab.“

Er gewährt keine ausufernde Innensicht in seine Figuren, sondern lässt sie für sich sprechen und handeln. Der Leser muss sie sich selbst erklären und sie erkennen. Attribute treten hinter Verben zurück. Die Handlung und das Wort der Figur stehen im Vordergrund. Ich beschließe, diesen Roman in einigen Monaten noch einmal zu lesen, und weiß bereits jetzt, dass ich Neues entdecke. 

Laxness‘ Werke erscheinen gegenwärtig in deutscher Übersetzung im Steidl Verlag, ebenso die hier zitierte Laxness-Biographie von Gudmundsson. Alle Bände sind, wie jede Publikation des Göttinger Verlagshauses, ein Stück Buchkunst, sei es als edler Leinenband oder als elegante Steidl Pocket-Ausgabe. Es sind Bücher, die man nicht aus der Hand legen möchte und die Sammlerlust wecken. 

„Atomstation“ ist in diesem Frühjahr bei Steidl erschienen. Zahlreiche Novitäten hatten im Lockdown keine Bühne, sind bis heute auf die Empfehlung engagierter Buchhändler und Leser angewiesen und laufen Gefahr, unbeachtet zu bleiben. 

Ein guter Grund, Laxness und seinem Werk eine Blogbeitrag zu widmen!

Halldór Laxness: Atomstation
Aus dem Isländischen von Hubert Seelow
Steidl Verlag 2020
ISBN 978-3-95829-773-9

Halldór Gudmundsson: Halldór Laxness – Sein Leben
Steidl Verlag 2011
ISBN 978-3-86930-235-5

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