So beginnt die Geschichte, die Leo Colston zu erzählen hat. England im Jahr 1900: Der zwölfjährige Leo wird von seinem Schulkameraden Marcus Maudsley nach Brandham Hall eingeladen, um dort den Sommer zu verbringen. Leo ist ebenso fasziniert wie verunsichert: Die Maudsleys sind wohlhabend und vornehm, in ihrem Haus gehen zahlreiche Gäste ein und aus, man nimmt in großer Runde die Mahlzeiten ein und spielt Cricket.
Leo erkennt, dass er, ein Halbwaise, und seine Mutter weitaus weniger begütert und gewandt sind. Dabei hat Leo gerade erst im Internat an Selbstbewusstsein gewonnen: Zwei Jungen, die Leo zugesetzt haben, sind vom Dach gefallen und haben sich schwer verletzt. Leo hatte die beiden in seinem Tagebuch verflucht und das Tagebuch für alle gut sichtbar ausgelegt. Nun heißt es in der Schule, Leo habe Zauberkräfte. Dieser glaubt selbst daran und schwankt nun auf Brandham Hall zwischen gefühlter Unterlegenheit gegenüber der herrschaftlichen Gemeinschaft und Allmachtsfantasien.
Als Marcus krank im Bett liegt und als Spielkamerad ausfällt, streift Leo allein durch das Umland und lernt Ted Burgess kennen, einen jungen Bauern. Ted gibt Leo einen Brief für Marian, die Tochter der Maudsleys, mit. Leo muss Stillschweigen bewahren und wird fortan zum geheimen Boten von Marian und Ted. Während Leo in kindlicher Naivität daran glaubt, das die beiden eine geheime Geschäftsbeziehung pflegen, ahnt der Leser natürlich die Wahrheit: Marian und Ted sind ein Liebespaar. Und als Hugh, der neunte Lord Trimingham, erscheint und seine Verlobung mit Marian zu Greifen nahe ist, wird klar, das diese Liebesgeschichte kein gutes Ende nehmen wird.
Der Roman von Leslie Poles – kurz L. P. – Hartley – erschien 1953 unter dem Titel „The Go-Between“ und wurde Anfang der Siebzigerjahre nach einem Drehbuch von Harold Pinter verfilmt. Der Text lag bereits unter verschiedenen Titeln in deutscher Übersetzung vor.
Der aktuelle Titel „Ein Sommer in Brandham Hall“ suggeriert für mich eine Sonntagabend-TV-Idylle im Zweiten. Das ist schade, denn dieses Buch ist weitaus mehr als nur das.
Der Verlag zitiert auf dem Cover Ian McEwan und dies ist das eigentlich richtige Signal, denn die Geschichte von Leo, Ted und Marian nimmt ein Thema auf, das in McEwans „Abbitte“ eine Variation findet: Ein Kind spielt Schicksal, ohne die Tragweite seines Handelns ermessen zu können.
Dieses Thema erzählt L. P. Hartley so wunderbar „englisch“, so wohlkomponiert und athmosphärisch dicht, dass es mir ein Lesevergnügen war. Hartley zeichnet hier ein psychologisch tiefenscharfes Porträt einer untergehenden Klassengesellschaft, in die der Leser aus den Augen des kindlich-naiven Außenseiters Leo eintritt. Diese Kinderperspektive, aus der rückblickend ein schicksalhaftes, tragisches Geschehen erzählt wird, fasziniert mich immer wieder. Hier wie in McEwans „Abbitte“.
Dass Leo an dem Versuch, Teil dieser rigide geordneten Gesellschaft zu werden, scheitern wird, ist von Anfang an klar, denn Hartley wählt die elegante Struktur einer Rahmenerzählung: Der Roman setzt ein, als der gealterte Leo in der Mitte des 20. Jahrhunderts jenes Tagebuch findet, das er in jenem Sommer geführt hat, als er von seinen scheinbar magischen Kräften beseelt und von der für ihn realen Kraft der Tierkreiszeichen überzeugt war, die das Tagebuch zieren:
„Wenn mein zwölfjähriges Ich, das ich ziemlich liebgewonnen hatte, mir vorwerfen würde: ‚Warum bist du als Erwachsener so ein Langweiler geworden, wo ich dir doch so einen guten Start verschafft habe? Warum hast du dein Leben in staubigen Bibliotheken verbracht und die Bücher anderer Leute katalogisiert, statt deine eigenen zu schreiben? (…) – was sollte ich dann erwidern?“
Und so macht sich der erwachsene Leo, der seine besten Jahre ungelebt hinter sich gelassen hat, auf den Weg in die Vergangenheit: „‚Versuch es jetzt, es ist noch nicht zu spät.‘“ Der Leser folgt Leo, wie er noch einmal zwölf Jahre alt wird und nach Brandham Hall fährt. Auf den letzten Seiten steht Leo vor dem alten Landsitz, denn er hat keine Zeit mehr zu verlieren. Wem wird er dort begegnen? Lest selbst. Es lohnt sich.
L. P. Hartley: Ein Sommer in Brandham Hall
Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
Julia Eisele Verlags GmbH 2019
ISBN 978-3-9616-054-9