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„Wenn ich du wär, würde ich da sein, wo ich stehe.“

In diesem Jahr ist alles anders. Und so ist Kanada gleich zwei Mal Ehrengast der Frankfurter Buchmesse – in digitaler Form in 2020 und in physischer Gestalt im kommenden Jahr 2021, sofern dann hoffentlich eine Messe in annähernd gewohnter Form wieder möglich sein wird. Kanada war für mich das Stichwort, noch einmal einen Roman von Jane Urquhart, einer der bekanntesten kanadischen Schriftstellerinnen der Gegenwart, zu lesen: „Fort“ ist eine poetische, bildgewaltige Familiensaga, die in Irland um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt und bis nach Ontario, Kanada, in die Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts führt.  

Eine kleine Insel vor der irischen Küste: In einem Unwetter ist ein Schiff gesunken und nun spült das Meer Kohlköpfe, Wasserkessel und Whiskeyfässer an den Strand. In den Fluten entdeckt Mary einen Schiffbrüchigen. Das junge Mädchen zieht den Mann an Land, hält den Sterbenden in ihren Armen und ist von diesem Augenblick an der Welt entrückt – „fort“, wie es die Inselbewohner nennen. Die Menschen der Insel sind in ihrem Aberglauben davon überzeugt, dass Marys Entrückung der Preis für das reiche Strandgut ist, den sie dem dämonischen Volk aus dem Meer als Gegenleistung zahlen müssen. Anders als erwartet stirbt Mary nicht bald nach der Begegnung mit dem jungen Mann, sondern sie wird von Tag zu Tag schöner und vitaler. 

Als das Misstrauen der Frauen und das Begehren der Männer gegenüber Mary aus dem Ruder zu laufen drohen, greift der Inselpfarrer ein und vermählt sie mit dem Lehrer Brian auf dem Festland, der die junge Frau so annimmt, wie sie ist:

„‘Ich bin hier, aber ich bin nicht hier‘, sagte sie. ‚Ich werde deine Frau sein, aber ich werde nicht deine Frau sein.‘

‚Du bist hier‘, sagte Brian. ‚Du fühlst die Wärme meiner Hand durch deinen Ärmel. Ich sehe dieselben Regentropfen wie du dort am Glas herunterrinnen.‘

Sie blickte auf das Haar des Schulmeistes und fühlte es unter ihrer Hand, spürte die Festigkeit – die Gegenwärtigkeit – dieses Körpers, der neben ihr kauerte.

Und dann sank sie weinend an des Schulmeisters Schulter. Begann wieder in die Welt einzutreten.“

Die Geschichte von Mary und Brian, die nun beginnt, steht für die Geschichte der Iren, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts nach Kanada aufbrechen, um der Großen Hungersnot in ihrer Heimat zu entfliehen. Ursache dieser Katastrophe war die Kartoffelfäule, die Irland deshalb so hart traf, weil die sich die Bevölkerung maßgeblich von Kartoffeln ernährte, die auf den kleinen Flächen, die den irischen Bauern zur Verfügung standen, effektiv anzubauen waren, während Getreide und Vieh grundsätzlich an die englischen Großgrundbesitzer abgeliefert werden mussten. Diese Großgrundbesitzer waren in der Regel „Absentees“, residierten also in England, und somit waren wertvolle Erntegüter grundsätzlich für den Export bestimmt. Die Landlords von Mary und Brian, die Brüder Sedgewick, leben zwar in der Nachbarschaft, doch auch sie sind bildlich gesprochen Abwesende, weil sie sich in der bizarren Weltfremdheit des zeitgenössischen Landadels auf ihrem Landsitz Puffin Court ausnahmslos in Naturkunde und die in Komposition von kuriosen Klageliedern versteigen. 

Die Sedgewick-Brüder Osbert und Granville sind ein märchenhaftes, weil gutmütig-verschrobenes Gespann und damit sympathisch, zudem sie in letzter Minute die Wandlung zu aktiv handelnden Figuren machen und damit erwachsen werden. Im letzten Moment begreifen diese beiden die existenzielle Not ihrer Untergebenen und haben die rettende Idee: Sie machen „nur einen oder zwei Gainsborouhs“ aus ihrer Gemäldesammlung zu Geld und siedeln einen Teil ihrer Pächter in Kanada an. Unter diesen Auswanderern sind Mary, Brian und ihr Sohn Liam, die in der Wildnis von Ontario ein neues Leben voller Härten beginnen.

Doch die Familiengemeinschaft zerbricht, denn Mary lässt der Ruf des Wassers nicht los, den sie seit Beginn ihres Fortseins verspürt. Als sie erfährt, dass in der Nähe der Moira Lake liegt – „Moira“ war der Name, den ihr der junge Gestrandete gegeben hatte –, bricht sie dahin auf und verlässt Brian, Liam und ihre neugeborene Tochter Eileen. Sie wird erst nach ihrem Tod zu ihrer Familie zurückkehren, wenn der Indianer Exodus Crow ihren Leichnam nach Hause bringt.

Der Roman beginnt mit dem Satz „Die Frauen dieser Familie neigten zu Extremen“ und diese Tradition führt nun an Marys Stelle Eileen fort, die die ätherische Wesensart ihrer Mutter geerbt hat, während Liam der pragmatische Retter der Familie ist. Als der Goldrausch das Land befällt, nutzt Liam die Gunst der Stunde, verkauft sein Land mit gutem Gewinn an Osbert Segdewick, der mittlerweile seinen Pächtern nach Kanada gefolgt ist, und kauft fruchtbares Farmland. Eileen hingegen verfällt wie einst ihre Mutter einem fremden jungen Mann, den sie im Wirtshaus beim Tanz beobachtet und auf dessen Rückkehr sie seitdem voller Begehren wartet. Und dieser Erzählstrang knüpft direkt an die Geschichte der irischen Bewegung im Kanada des 19. Jahrhunderts an und mündet in einem fatalen Irrtum. Mehr sei an dieser Stelle nicht preisgegeben.

Die alte Eileen wird am Ende des Geschichte ihrer Nachfahrin Esther den Rat geben, sich nicht mehr nach dem „Fort“-Sein zu sehnen, sondern in der Wirklichkeit zu leben, denn Eileen hat den Preis für das Entrückt-Sein ihrer Mutter und ihrer selbst gleichsam doppelt gezahlt: „Wenn ich du wär, würde ich da sein, wo ich stehe.“

Dieser Roman beginnt gut hundert Jahre, nachdem sich Liam und Eileen am Ufer des Lake Ontario niedergelassen haben, mit der alten Esther, die am Ende ihres Lebens die Farm verlassen wird.  Ein Kreis schließt sich, weil ein neuer Schritt am Ende eines alten Lebens getan wird.

Aufbruch und Fortbewegung sind die Konstanten dieser Saga, die ich mit großem Genuss noch einmal gelesen habe, weil sie diese Themen so phantasievoll und bildgewaltig variiert. Jane Urquhart erzählt eine magische Abenteuergeschichte mit poetischen Worten, feinem Humor, einer eleganten Prise von Ironie, fern jeder Seichtigkeit. Wärmste Leseempfehlung!

Jane Urquhart: Fort
Aus dem Englischen von Werner Richter.
Berliner Taschenbuch Verlags GmbH 2002
ISBN 978-3442-76071-8

Aktuell lieferbar als Taschenbuch im Piper Verlag
ISBN 978-3-8333-0821-5

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