Die Geschichte beginnt mit einem neunzigsten Geburtstag: Alle sind in den Kibbuz gekommen, um Vera zu feiern, die vor Jahrzehnten als junge Witwe mit ihrer Tochter Nina aus Jugoslawien nach Israel gekommen ist. Auch Nina ist da. Nina, die immer wieder ausbricht, die ihren Mann Rafi und ihre kleine Tochter Gili einst von jetzt auf gleich verlassen hat und die nirgendwo zuhause ist. Gili, mittlerweile erwachsen, ist Filmemacherin und in diesem Buch die Erzählerin.
Am Ende der Geburtstagsfeier steht der Entschluss nach Kroatien zu reisen, um einen Film zu drehen, in dem Vera ihre Lebensgeschichte erzählt, die auch die Geschichte von Nina ist. Der Anlass ist tragisch: Nina ist an Demenz erkrankt. Sie weiß, dass sie schon bald vergessen wird. Der Film soll ihr die Erinnerung an das bewahren, was geschehen ist. Und nicht nur das: Die Reise an den Ort, an dem Ninas Leben begann, und Veras Geschichte sollen Nina auch ihr Leben erklären.
Die Reise in die Vergangenheit ist ein Höllen-Trip: Sie führt die kleine Gruppe auf die Insel Goli Otok, eine ehemalige Gefängnisinsel, auf der nach Titos Bruch mit der Sowjetunion ein Umerziehungslager für Anhänger Stalins errichtet wurde. Vera und ihr Mann Miloś, ehemalige Partisanen und überzeugte Kommunisten, stehen unter dem Radar der Geheimpolizei und als sich Miloś im Gefängnis das Leben nimmt, wird Vera vor die Wahl gestellt: Entweder erklärt sie Miloś zum Stalinisten und damit zum so genannten Volksfeind oder sie geht nach Goli Otok und lässt ihre sechsjährige Tochter allein zurück. Für Vera gibt es keine Option. Ihre symbiotische Liebe zu Miloś lässt für sie keine andere Entscheidung zu: Vera verrät Miloś nicht und verlässt dafür Nina, ohne sich noch einmal verabschieden oder erklären zu können.
David Grossman, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, ist ein exakter Kartograph der menschlichen Seele. In „Was Nina wusste“ leuchtet er ihre Untiefen schmerzhaft aus und erzählt davon, wie Traumata von Generation zu Generation weitergegeben und zur Zwangsläufigkeit werden. Vera fasziniert und erschüttert mich: Eine kleine, drahtige und energische Frau, eine unbeugsame Super-Heldin, die mit schier übermenschlicher Kraft die Gräuel von Goli Otok übersteht. Sie bleibt ihrer Lebensliebe Miloś und damit auch sich selbst treu, doch in der Konsequenz muss sie deshalb ihr Kind unweigerlich im Stich lassen. Diesen Verrat an Nina blendet Vera einfach aus und verlässt damit Nina auf einer anderen Ebene seither immer wieder.
„Was hast du getan, Oma?“ fragt Gili Vera irgendwann auf Goli Otok. Erst die Reise der Frauen räumt auch Ninas Leid einen Platz ein in der Geschichte der Familie ein. Am Ende des Buches spricht Gili von sich und ihrer Mutter Nina als den „verlassenen Mädchen“. Das Thema des allein gelassenen Kindes, das sich von Nina zu Gili gleichsam vererbt, ruft eine menschliche Ur-Angst auf. Wie es diesen drei Frauen gelingt oder nicht gelingt, miteinander in Beziehung zu treten, einander zu verstehen oder nicht zu verstehen, hat mich tief berührt.
David Grossman erzählt auf der Basis einer wahren Geschichte. Im Nachwort erinnert er an Eva Panić-Nahir, mit der er befreundet war, der er in der Figur der Vera eine neue Gestalt gegeben hat und durch deren Biografie das Grauen von Goli Otok bekannt gemacht worden ist.
Auf dieses Buch hat mich eine Instagram-Veranstaltung von Buchblogger Florian Valerius (Instagram: @literarischernerd) und Hana Stojić, Literaturnetzwerk Traduki, aufmerksam gemacht. Danke an Euch für diese Anregung!
„Was Nina wusste“ ist harte Kost. Ich habe es langsam gelesen, musste pausieren und die Bilder immer wieder ruhen lassen. Diesem Buch wünsche ich viele Leser, weil es die Folgen von Traumata und einen Weg zeigt, wie man ihnen begegnen kann.
David Grossman: Was Nina wusste
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Carl Hanser Verlag 2020
ISBN 978-3-446-26752-7