Im November wird der Trauer ein Platz im Kalender eingeräumt. Allerheiligen, Allerseelen, Volkstrauertag und heute der Ewigkeits- oder Totensonntag. Auch für mich persönlich häufen sich im November Gedenktage an Menschen, die mir nahe standen und gestorben sind. Darum gebe ich dem Thema heute in meinem Blog Raum und stelle das Buch „Der Freund“ von Sigrid Nunez vor.
Eine Frau trauert um einen Freund. Er hat sich das Leben genommen. Sie fährt zu seiner Beisetzung, trifft auf seine Ex-Frauen und erinnert sich. Ein charismatischer Mann, Schriftsteller, ein begehrter und streitbarer Mann. Die Frau, die in diesem Buch die Erzählerin ist, unterrichtet Kreatives Schreiben, war seit vielen Jahren mit diesem Mann befreundet und für einen Moment waren die beiden auch mehr als Freunde. War sie in ihn verliebt? Sie wird bis zur letzten Seite darüber nachdenken.
Der Freund hat einen Hund hinterlassen, eine riesige alte Dogge, und nun bittet eine der Ex-Frauen die Erzählerin, diesen Hund zu sich zu nehmen. Ungeachtet aller Widerstände – in ihrer Wohnung mitten in New York sind Hunde verboten – nimmt sie Apollo, so heißt die Dogge, zu sich. Eine trauernde Frau und ein trauernder Hund bilden in ihrem Schmerz eine neue Gemeinschaft. Die Erzählerin durchstreift mit dem Hund die Stadt und reflektiert das Leben. Um den Hund in ihrer Wohnung halten zu dürfen, erklärt die Erzählerin Apollo zum Therapiehund. Und genau dies wird er schließlich auch.
Warum bedeutet mir dieses Buch so viel? Ich weiß bereits jetzt, dass ich den Text noch oft lesen werde, ich habe sogar beim Schreiben dieses Blogbeitrags begonnen, das Buch von vorn zu lesen. Es ist voller Gedanken über das Leben, den Tod, über das Verlieren, Lieben und vor allem über das Schreiben und Lesen. Viele Passagen stehen für sich und ich könnte das Buch an jeder beliebigen Stelle aufschlagen, um eine Textstelle zu finden, die ein Frage in den Raum stellt, über die es sich nachzudenken lohnt:
„Unschuld ist etwas, das wir Menschen durchlaufen und hinter uns lassen, unfähig dazu, zurückzukehren. Doch Tiere leben und sterben in diesem Zustand, und Unschuld durch die grausame Behandlung einer Ente verletzt zu sehen, kann als der barbarischste Akt der Welt empfunden werden. Ich kenne Menschen, die sich über diese Reaktion empören, sie zynisch, menschenfeindlich und pervers nennen. Doch ich glaube, dass der Tag, an dem wir nicht mehr so empfinden können, ein schrecklicher Tag für alle Lebewesen sein wird, dass unser Abgleiten in Gewalt und Barbarei dann nur noch schneller erfolgen wird.“
Der tote Freund war ein begeisterter Spaziergänger, ein Flaneur, der so seine Kreativität aufrecht erhielt. Auch die Erzählerin flaniert in diesem Text von Abschnitt zu Abschnitt durch ihre Gedanken. Ernste Anekdoten aus der Literaturgeschichte, Fragwürdigkeiten des Literaturbetriebs, Erfahrungen aus Creative-Writing-Workshops mit Trauma-Opfern. Die Erzählerin spricht zu ihrem toten Freund und manchmal auch zum Leser. Das macht diesen Text eindringlich und zu einer über 230 Seiten langen Anregung zum Nachdenken und Infragestellen, wie man es selbst mit diesen Themen hält.
Die Erzählerin schreibt über ihren Schmerz, vor allem über die Liebe zu diesem Hund, der neu in ihr Leben kommt. Wenn etwas geht, kommt auch etwas. Das passiert in diesem Buch. Ich habe es als eine Art Perpetuum mobile gelesen, das aus dem Thema Schmerz, Abschied und Verlust immer wieder etwas Neues in Gang setzt. Gut möglich, dass dies das November-Buch meines Lebens wird. Danke an Sigrid Nunez.
Sigrid Nunez: Der Freund
Aus dem Amerikanischen von Anette Grube
Aufbau Verlag GmbH & Co. KG 2020
SBN 978-3-351-03486-3