Hier und da bin ich eine späte Leserin, so auch im Fall von Minna Rytisalos Roman „Lempi, das heißt Liebe“, der bereits vor einigen Jahren erschienen ist und zunächst zum Lieblingsbuch finnischer Blogger, dann auch außerhalb Finnlands zum Lieblingsbuch vieler Leser wurde. Nun bin ich in seinen Bann gezogen und „Lempi“ findet besser spät als nie in diesem Blog Erwähnung.
Wer ist Lempi? Wie die Figur auf dem Cover bleibt Lempi selbst für den Leser unsichtbar. Ihre Kontur entsteht allein aus den Berichten der drei Erzähler: Lempis Ehemann Viljama, der Magd Elli und Lempis Zwillingsschwester Sisko. Alle drei Erzähler sind mit Lempi verwoben. Durch Liebe oder Hass. Jede Stimme erzählt von Lempi, die eines Tages einfach verschwindet, als die kleine finnische Stadt während des Zweiten Weltkriegs evakuiert wird und Lempi für alle unverständlich ihre beiden kleinen Söhne zurücklässt. Ist sie wirklich in das Auto eines Deutschen gestiegen und mit ihm fortgefahren, wie man es sich im Ort erzählt?
Viljami, ein junger Bauer, hat sich in die schöne Lempi, die Tochter des Ladenbesitzers, verliebt und nimmt sie mit auf seinen Hof, den er nach dem Tod seiner Eltern allein bewirtschaftet. Damit Lempi weniger Arbeit hat, stellt er die Magd Elli ein. Lempi und Viljami haben einen gemeinsamen Sommer voller Liebe und Innigkeit, dann wird Viljami einzogen. Als er zurückkommt, ist Lempi verschwunden.
Nach Viljami kommt Elli zu Wort, die verbitterte, immer ungesehene Frau, die Lempi hasst, aber sich wie besessen nach deren Lebensumständen sehnt. Und schließlich spricht Sisko, Lempis Zwillingsschwester, die Lempi wie einen amputierten Körperteil vermisst und sie ihr Leben lang überall suchen wird.
Was heißt Liebe? Jeder der Erzählstimmen erzählt von ihr, von sehnsuchtsvollen Wünschen, von unerfüllten oder wahrgewordenen Träumen, die schon im nächsten Augenblick wieder zerstört werden. Für Viljami, Elli und Sisko wird auf unterschiedlichste Art für einen Moment aus Sehnsucht Wirklichkeit, um dann wie eine Seifenblase zu zerplatzen. Die kurze Erfüllung, die sich für den einen ereignet, wird für den anderen zum bitteren Erwachen. Die Verzückung, der Rausch existieren nur für einen Augenblick, sind niemals von Dauer, weichen den Umständen der schmerzhaften Realität, den geschaffenen Tatsachen. Dann geht das Leben einfach weiter, weil es dies muss. Und immer dreht sich das Glück oder Unglück der Erzähler um Lempi. Lempi heißt auf Finnisch Liebe.
Der innigste Text ist für mich Viljamis Bericht, der an der Liebe und Sehnsucht nach Lempi verzweifelt und sich immer wieder den Tod anstelle des Lebens herbeiwünscht. Viljami ist im der naivste aller drei Erzähler, weil seine Strategie einzig und allein die Liebe ist. Er ist ein sogenannter einfacher Mann, der so glaubwürdig spricht, weil ihm Minna Rytisalo in seiner naturverwobenen und bodenständigen Art bewegenden Bilder die Liebe beschreiben lässt, ohne ihn in Rührseligkeit abdriften zu lassen:
„Wäre der Mensch doch ein Eichhörnchen. Ein Haselhuhn, ein Rentier, ein Vielfraß oder Hase, egal was. Sein Geist würde nichts verstehen, und wenn Schlimmes geschieht, würde er nur die Lage bemerken, aha, so ist es jetzt, und weitermachen mit der Nahrungssuche, der Flucht vor Feinden. Vielleicht kann ich später darüber lachen, falls ich wieder lachen sollte: dass ich Waldtiere, kleine Kinder, Bäume und sogar Steine beneide, weil sie den Schmerz nicht kennen, der mich zerreißt.“
Nach der letzten Seite schließt sich der Kreis. Insgeheim hätte ich mir ein anderes Ende gewünscht. An meiner Liebe zu diesem Text ändert dies allerdings nichts Nennenswertes.
Auf den Text selbst folgt eine Anmerkung von Elina Kritzokat, die den Roman ins Deutsche übersetzt hat. Kritzokat erläutert und hier den historischen Hintergrund dieses Romans, nämlich die Geschichte Finnlands während des Zweiten Weltkriegs als Spielball zwischen Hitler-Deutschland und der Sowjetunion, die als solche nur bei wenigen Lesern hinreichend bekannt sein mag. Diese Ergänzung gibt „Lempi“ noch einmal eine besondere Betonung, nämlich nicht nur als einen herausragenden Text über die Liebe, sondern auch als eine Erzählung über die finnisch-deutsche Geschichte.
Minna Rytisalo: Lempi, das heißt Liebe
Aus dem Finnischen und mit einem Nachwort von Elina Kritzokat.
dtv 2020
ISBN 978-3-423-14748-4