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Störfall

Die Kleinstadt irgendwo im Süddeutschen ist in Aufruhr: Hoch oben auf einem Dach wird eine Frau gesichtet. Manu, die Gärtnerin, die für ihr Leben gern Pflanzen rettet, steht dort, tobt und wirft Dinge auf die Menschen, die zu ihr hoch gaffen. Eine Erklärung gibt sie nicht. Das scheinbar geordnete Leben der Stadt und ihrer Menschen wird von einem Moment auf den anderen auf links gekehrt. Manu wird einen Tag auf dem Dach bleiben und wenn sie in die Tiefe springt, wird vieles nicht mehr so sein, wie es war.

Simone Lappert beschreibt in ihrem Roman „Der Sprung“, wie Lebensgefüge durch den scheinbar irrationalen Akt der Heldin innerhalb von Stunden aus der Kontrolle geraten. Die Frau auf dem Dach ist ein Trigger. Sie bringt in den Menschen unten am Boden Stärken und Schwächen, Heldenmut, Reue, lang verdrängte Schuldgefühle und Kraft zur Veränderung an den Tag. Sie macht die hässliche Fratze des Mobs sichtbar, der „Spring doch!“ nach oben ruft und sich mit Erdnussflips und Eistee eindeckt, um keine Sekunde des Geschehens zu versäumen. Theres und Werner, die Ladenbesitzer, die ihre Existenz schon aufgegeben haben, können ihr Glück kaum fassen, als die Gaffer ihr Geschäft stürmen und leerkaufen. Der Polizist Felix hat die Aufgabe, die Situation zu lösen, und wird von einer Last eingeholt, die sein Leben seit vielen Jahren schwer macht. Finn, der Fahrradbote, liebt Manu, aber noch mehr liebt er seine Freiheit und sieht sich plötzlich zwischen allen Anforderungen dort, wo er niemals sein wollte: Mit dem Rücken an die Wand gestellt. Maren, die dicke Frau mittleren Alters, bricht aus in ein scheinbar besseres Leben und wird am Ende des Buches erkennen, dass sie allein genug ist für ihr Glück. Ein Hutmacher, der sein Geld auf dem Schlachthof verdient, erlebt den unverhofften Erfolg seines Lebens. Winnie, ein gemobbter Teenager, dreht den Spieß um. Und Manus Schwester Astrid, die für das Bürgermeisteramt kandidiert, muss erkennen, dass das Leben nicht planbar ist.

Die Autorin beschreibt in „Der Sprung“ die Zerbrechlichkeit scheinbar wohlgeordneter Existenzen und die wundersame Kraft der Gestrauchelten. Sicher ist hier nichts und niemand. Wer nichts mehr zu verlieren hat, kann nur noch gewinnen. Simone Lappert hat in diesem Text einen Figurenreigen errichtet, der mehrdimensionale Formen annimmt, Handlungsstränge verschränkt, Chronologien versetzt, indem Erzählzeiten zurückgespult und neu geschichtet werden. Die Figur, die eben noch Kundin im Tante-Emma-Laden war, ist Heldin eines Folgekapitels, Zusammenhänge klären sich in der Rückschau. 

Die stärksten Figuren sind die, die schon verloren haben. So wie der Obdachlose Harry, der den Menschen Fragen verkauft wie „Was tröstet dich?“ oder „Wann hast du zum letzten Mal geweint?“ – „Wenn einer etwas gefragt wird, kommt er in der Antwort immer selber vor. Wir Menschen mögen das. Irgendwo vorkommen. Uns irgendwo drin finden.“

Die der bürgerlichen Alltagswelt Entrückten, sind mit der Natur am engsten verbunden und damit sich selbst am nächsten: die Gärtnerin Manu, der Obdachlose Henry, die alte Frau Moosbacher, die ihr Jagdgewehr im Altersheim versteckt: 

„Die Leute sollten mehr rausgehen in die Natur (…), dann wären sie ausgeglichener, weil sie regelmäßig etwas erleben würden, dann müssten sie sich nicht zu solchen Mobs da zusammenrotten.“

Simone Lapperts Roman ist eine Schatzkiste, eine wohlkomponierte, dichte fiktionale Struktur, ein reichhaltiger Figurenfundus, der Tragik, Humor und eine gute Portion Wunder enthält und ein Appell ist, sich am und über das Leben zu freuen. Was für eine wunderbare Mischung – klare Leseempfehlung!

Simone Lappert: Der Sprung
Diogenes Verlag AG 2019
ISBN 978-3-257-07074-3

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  • Beitrag veröffentlicht:2. Juni 2023
  • Beitrags-Kategorie:Romane