„Das alte Jahr war sterbensalt an diesem Tag. Das geduldige Jahr hatte die Vorwürfe und Schmähungen seiner Lästerer überlebt und war getreulich mit seinem Werk zustande gekommen. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Es hatte sich durch den ihm angewiesenen Kreislauf gearbeitet und legte jetzt sein müdes Haupt nieder, um zu sterben.“
Am Silvesterabend steigt Tagelöhner Trotty hinauf zu den Glocken im Turm, die ihm an guten Tagen mit ihrem Geläut die Hoffnung auf Arbeit schenken und die liebsten Spielgefährten seiner Tochter Meg waren, die in ihrer Kindheit kein anderes Spielzeug besaß. Trotty hat die Glocken erzürnt, als er dem Alderman Glauben schenkte, dass das Los seiner Armut in den neuen Zeiten nicht mehr wandelbar ist. Der mächtige Mann macht die Hoffnung von Meg zunichte, am Neujahrstag ihren Verlobten Richard heiraten zu dürfen, der endlich eine Festanstellung gefunden hat – einmal arm, immer arm: „Wenn Ihr geheiratet habt, werdet Ihr mit Eurem Mann streiten und ein unglückliches Weib werden. Ihr glaubt‘s vielleicht nicht, aber Ihr werdet es mit der Zeit, weil ich’s Euch sage.“
Trotty zumindest glaubt dem Aldermann: „Schon als schlecht geboren! Nichts hier zu schaffen!“. Gebeugt geht der alte kleine Mann seiner Wege. Er hat resigniert. Doch die Glocken halten dagegen und rufen ihn am Silvesterabend in der hohen Turm. Toby hat sie erzürnt, denn „wer den Gefallenen seines Geschlechts den Rücken kehrt, sie als schlecht aufgibt“, bekommt es mit den Glocken zu tun.
„Die Stimme der Zeit (…) ruft dem Menschen zu: ‚Vorwärts!‘. Die Zeit dient seinem Fortschreiten und seiner Verbesserung, der Erhöhung seines Wertes und seines Glückes, der Veredelung seines Lebens, der Annäherung an jenes Ziel, das ihm mit Wohlbedacht bereits damals gesteckt wurde, als die Zeit und er seinen Anfang nahm.“
In einer traumgleichen Sequenz begegnet Trotty hier den Geistern der Glocken, die ihm vor Augen führen, was die Konsequenz von Resignation ist und was passiert, wenn sich Meg in das ihr vorgegebenes Schicksal fügt. Die Geister geleiten Trotty durch einen Reigen von Szenen, in denen Megs Zukunft zu sehen ist, nachdem sie ihren Traum vom Glück aufgegeben hat: Allein, verarmt, ohne Glück wird Meg schließlich aus Gram ihr Leben selbst beenden. Richard wird zum Trinker, der den Weg zu Meg nicht mehr findet. Toby verlässt den Turm voller Hoffnung und Tatendrang. Die Glocken haben ihn zur Umkehr bewegt, er erkennt, dass ein Schicksal, das man in die eigene Hand nimmt, änderbar ist:
„Ich weiß, dass eines Tages ein Meer der Zeit sich erheben und alle wie Blätter wegspülen wird, die uns unrecht tun und uns unterdrücken. Ich sehe, wie es heranflutet! Ich weiß, dass wir vertrauen und hoffen müssen und weder an uns noch an andern das Gute bezweifeln dürfen.“
Das märchenhaft Geschehen nimmt einen glücklichen Ausgang. Die Hochzeit wird gefeiert – und mit ihr die Hoffnung auf ein neues Leben, das mit dem neuen Jahr beginnt.
Charles Dickens „Silvesterglocken“ sind wie die „Weihnachtsgeschichte“ ein Lob auf die Menschlichkeit. Ich lese sie zum Jahresende an einem Tag, an dem ich am Vorabend eine Dokumentation über die Zukunft von Arbeit im Kontext der Digitalisierung gesehen habe, die einer Vielzahl ausführender Tätigkeiten die mittelfristige Endlichkeit bescheinigt. Was tun? Die Formel „und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ gilt nicht nur für die Helden der „Silvesterglocken“, sondern auch für Themen, die Charles Dickens im Zeitalter der Industrialisierung beschrieben hat. Und so bewegt mich Dickens Appell am Ende des Jahrzehnts und ich schreibe heute besonders gern von dieser Geschichte, deren Gültigkeit im Lauf der Jahrhunderte ungebrochen ist.
Charles Dickens: Die Silvesterglocken.
Ein Märchen von Glocken, die ein altes Jahr aus- und ein neues Jahr einläuten.
Mit Illustrationen von Selma Marlin Soganci.
Übersetzung von Leo Feld, die 1910 im Insel-Verlag erschienen ist.
Inselbücherei Nr. 89. Sonderausgabe 2014.
ISBN 978-3-458-17621-3