„Wir sind alle Geschichtenerzähler. Vielleicht macht uns das zu Menschen.“ Doris Dörries Buch „Leben, schreiben, atmen“ ist wunderbar. Nach dreißig Seiten wusste ich, dass meine Lieblingsbücher Gesellschaft bekommen haben. Schreiben als Weg, sich zu erinnern und als Mensch zu erkennen: Dieses Buch wirkt.
Es ist kein Ratgeber, es ist ein Mutmacher und fordert auf, im wahrsten Sinne des Wortes einfach zu schreiben. Jeden Tag, ohne nachzudenken, ohne auf Rechtschreibregeln zu achten, ohne Schere im Kopf. Selbstsabotierende Gedanken wie „Ich bin zu blöd“ oder die Allzweckwaffe „Und was wird meine Mutter sagen, wenn sie das liest?“ sind zu ignorieren. Hinsetzen, Stift nehmen, losschreiben.
Dieses Buch ist ein Praxisbeispiel, denn Doris Dörrie tut selbst, was sie empfiehlt: Sie schreibt einfach drauflos, assoziiert, lässt die Gedanken kreisen und die Erinnerungen fließen. Offen, authentisch, voller Humor und Ehrlichkeit, nahbar, persönlich. Und weil sie vormacht, wie man sich aufrichtig und frei, ohne Weichzeichner und jegliche Beschönigung auf die Suche in seinen Erinnerungen und Gedanken macht, um sich selbst als Mensch in dieser Welt zu erkennen, traue ich mich als Leser, es ihr nachzutun.
Dieses Buch ist auch die Lebensgeschichte von Doris Dörrie, die von Kreativität, Weltoffenheit und Erfolg geprägt ist, aber ebenso auch von schweren Verlusten, nämlich der Krebserkrankung und dem frühen Tod ihres Mannes. Hier kommt der dritte Teil des Titels zum Tragen: Atmen. Der Titel wird zum Überlebensmantra: Leben, schreiben, atmen. Das eine bedingt das andere. Niemals aufhören zu atmen, zu schreiben und damit zu leben.
Ich habe mich an einem Adventssamstag in einer überfüllten Buchhandlung in dieses Buch verliebt. Inmitten der vielen Menschen, die mit Einkaufstüten durch die Gänge eilten, konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Ich las Kapitel für Kapitel, an deren Ende jeweils Aufforderungen zu Schreiben stehen, und Ruhe kehrte ein inmitten des Samstagstrubels:
„Schreib über eine Prüfung, einen Test deines Charakters. Wer hast du geglaubt zu sein und wer bist du wirklich? Noch einmal das alte Zen-Koan: Wer bist du, wenn dir keiner zuschaut? Beim Schreiben schaust du dir selbst zu, und ob du die Wahrheit schreibst oder nicht, weißt oft nur du allein.“
Ich bin ein großer Doris-Dörrie-Fan und nach diesem Buch als solcher noch gewachsen.
Doris Dörrie: Leben, schreiben, atmen
Eine Einladung zum Schreiben
Diogenes, 2019
ISBN 978-3-257-07069-9