Juri kehrt nach Murmansk zurück, wo sein Vater Rubin im Sterben liegt. Den alten Mann, der seinen Sohn stets zum wahren Kerl prügeln wollte, hält einzig die Frage am Leben, was mit seiner Mutter Klara passiert ist, einer Wissenschaftlerin, die in der stalinistischen Ära eines Nachts von der Geheimpolizei abgeholt wurde und seither verschollen ist. Juri soll Klaras Schicksal in Erfahrung bringen:
„Rubins blassblauer Blick grub sich in seine Augen. »Du musst es herausfinden. Schnell, bevor ich krepiere. Damit ich es zumindest weiß.« Schließlich brachte er das Unvorstellbare hervor: »Bitte.«“
Juri hat Russland vor vielen Jahren verlassen und ist in die USA gegangen, wo er Ornithologie studierte und mittlerweile an der Universität lehrt. Am Sterbebett des Vaters ziehen Kindheit und Jugend in der Sowjetzeit an Juri vorbei: die Gewalttätigkeit und Härte des Vaters, die Gleichgültigkeit der Mutter, die eigene Zurückhaltung und Scheu, Erfüllung und Zuflucht, die Juri einzig die Natur bietet, die erste Liebe zu einem anderen Jungen. Rubin, ein gefürchteter und erfolgreicher Kapitän auf einem Fischtrawler, nimmt Juri eines Tages mit auf eine Fahrt ins Nordpolarmeer, die für Juri zu einem dramatischen Wendepunkt in seinem Leben wird.
Isabelle Autissier, Schriftstellerin und Weltumseglerin, erzählt die Geschichte dreier Generationen aus der Perspektive von Juri, Rubin und schließlich von Klara. Klara, die Wissenschaftlerin, die mit ihrem Mann und dem kleinen Sohn in die Stadt nördlich des Polarkreises geht, um als Abteilungsleiterin in einem geologischen Institut zu arbeiten und die eines Nachts für immer verschwindet. Ihr folgt der Leser ganz zum Schluss. Auf den letzten Seiten werden Kreise geschlossen und eine Frage bleibt offen.
Der Leser begleitet die Figuren in die Weiten der Polarregion, in die Zeit des Stalinismus und in die erschütternde Welt des Gulags. Dieses Buch ist Generationenroman und Coming-of-Age-Geschichte, die Autissier mit großer Klarheit und Tiefe auf nur knapp 300 Seiten erzählt. „Klara vergessen“ ist vor allem auch eine Geschichte über Schmerz und Gewalt an Seele und Körper.
Autissier schreibt mit starker visueller Kraft: Ich habe dieses Buch in Bildern gelesen. Diese Bilder waren grau, wie die Plattenbauten auf den Hügeln von Murmansk, schwarzblau wie die See und immer wieder weiß, wie die unendlichen Schneedecken, in denen sich die Menschen verlieren. Bildern der Unerbittlichkeit, Kälte und Einsamkeit stellt Autissier Naturpanoramen gegenüber, die die Erstarrungen aufbrechen und Freiheit jenseits der Gesellschaft garantieren:
„Die Tundra gehörte ihm. Zwischen Zwergweiden, -birken und -espen, die oft mehr Wurzeln als Äste hatten, hätte Juri gern haltgemacht, um jeden Baum vor Wind und Kälte zu schützen. Ein Stück weiter sanken die Schritte in einen dicken, leuchtend grünen Moosteppich ein. Wenn er weit genug von seinen Kameraden entfernt war, ließ er es sich nicht nehmen, sich voller Freude in diesem feuchten Flaum zu wälzen. Unvermittelt blieb er vor dem kräftigen Gelb des Arktischen Mohns stehen, dem Fuchsienrot von Weidenröschen und Steinbrech, dem weichen Schopf der für die Sumpflandschaft typischen Wollgräser. (…) Die Tundra sprach all seine Sinne an.“
Starken, facettenreiche Figuren tragen diese Geschichte und machen sie für mich herausragend – sei es Klara, die im Zentrum steht, oder Sok, eine Nebenfigur, der seine gesamte Familie und fast sein Leben wegen einer kleinen, kaputten Stalin-Büste verloren hat.
Jetzt, nachdem ich die letzten Seiten gelesen habe, finde ich viele Polaritäten, über die ich nachdenken muss: Gesellschaft und Natur, Vater und Sohn, Mann und Frau. Bleibt die Kluft hier wie dort letztlich unüberbrückbar? Und ich verdanke diesem Buch, dass ich viele Orte gesehen habe, ohne dort gewesen zu sein: Murmansk, einen Fischtrawler, einen Moosteppich in der Tundra. Das Nordpolarmeer. So werde ich die Fragen und Bilder und die Figuren noch eine zeitlang mit mir tragen.
Isabelle Autissier: Klara vergessen
Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig
mareverlag 2020
ISBN 978-3-86648-627-0