Im Jahr 1982 gewinnt ein deutsches Mädchen mit einer weißen Gitarre den Grand Prix d’Eurovision und der elfjährige Michael Murray wird erwachsen. Michael lebt mit seinen Eltern und seiner Granny auf einer schottischen Insel. Dies mag wie der Auftakt zu einem Sonntagabend-Film im ZDF klingen, doch Lisa O’Donnell bleibt in ihrem Roman „Die Geheimnisse der Welt“ dem Leser die Idylle schuldig: Die Menschen auf der Insel haben keine Reichtümer, an vielen Ecken und Ende fehlt es am Nötigsten. Erwachsene versuchen der aussichtslosen Tristesse und der Einsamkeit auf ihre Weise zu entgehen: Sie suchen ihr Glück im Pub und der eine oder andere verlässt den Weg der ehelichen Tugend im wahrsten Sinne des Wortes. Arbeitslosigkeit ist in der strukturschwachen Gegend an der Tagesordnung.
Michaels Vater Brian hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, seine Mutter Rosemary ist Putzfrau. Die resolute und erzkatholische Granny versorgt die Familie zum Leidwesen aller mit ihren gefürchteten Kuchen.
Michael und die anderen Kinder spielen in ihrer Parallelwelt und tragen ihre Kämpfe aus. Alle Kinder üben für die große Talentshow von Marianne und Michael liegt im ständigen Clinch mit seiner Erzfeindin Dirty Alice. Michael ist es auch, der die Geschichte erzählt, und er tut dies mit einem ebenso kindlichen wie gutem Humor, der von der dargestellten trüben Realität ablenkt. Die Kinderwelt kommt zu Bruch, als Michael eines Nachts das verzweifelte Weinen seiner Mutter aus der Küche hört. Er kann Grannys Wehklagen und die Wut seines Vaters zunächst nicht deuten. Ma muss ins Krankenhaus, doch niemand darf wissen, was mit ihr geschehen ist. Ma sei die Treppe hinuntergefallen, lautet die Version für die Klinik und die Nachbarn. Und bald schon wird Michaels Vater Brian angefeindet. Die Vermutung häuslicher Gewalt liegt für alle auf der Hand und die Familie bekommt den Argwohn deutlich zu spüren.
Als ich in der Stadtbibliothek den Klappentext las, erging es mir nicht anders als dem Umfeld der Familie Murray und ich begann den Roman in der Erwartung, ein Familiendrama zu lesen, das ich vorherzusehen glaubte. Das Drama findet auch statt, aber es hat eine andere Dimension und eine andere Ursache: Michaels Ma ist vergewaltigt worden. Auf dem Heimweg von ihrer Putzstelle durch den Park hat sie ein Fremder überfallen.
Michaels Mutter verbietet ihrer Familie, die Polizei zu holen, weil sie sich für das an ihr begangene Verbrechen schämt. Und so nimmt das Unglück seinen Lauf. Die Familie gerät ins Abseits und Michaels Vater zu Unrecht in Verruf. Michaels Mutter droht an ihrem Leid zu zerbrechen. Zwänge, Depressionen, Fluchtversuche, Aktionismus – nichts bringt Rosemary ihr altes Leben zurück.
Als weitere Frauen dem Vergewaltiger zum Opfer fallen, befindet sich die Familie in einem Dilemma: Rosemary versucht verzweifelt, das Verbrechen an ihr zu verheimlichen, aber alle fühlen sich schuldig, weil sie insgeheim glauben, die anderen Frauen hätten vor dem Vergewaltiger geschützt werden können, wenn sie, die Murrays, sofort die Polizei benachrichtigt hätten.
Michael erzählen die Erwachsenen zunächst, seine Ma sei einem Exhibitionisten begegnet. Der Junge kann sich das Geschehen und den Umgang seiner Familie damit nicht erklären und ergründet irgendwann selbst die Wahrheit. Und so wie Michael Stück für Stück das Geheimnis seiner Familie aufdeckt, so erkennt er die Verstrickungen der anderen Erwachsenen:
„Lügen machen die Leute glücklich, glaube ich, und deshalb lügen alle andauernd, um die anderen nicht zu verletzen oder wütend zu machen, sondern die Wahrheit schön von ihnen fernzuhalten.“
Die Kinderwelt geht verloren. Mariannes herbeigesehnte Talentshow wird für Michael zur Farce und das eigentliche Theater der Erwachsenen offenbart sich:
„Ich schaue mich um und sehe Männer und Frauen mit Bierdosen und Weinflaschen in der Hand, und plötzlich merke ich, dass alle betrunken sind, oder zumindest die meisten. (…) Sie tun alle nur so. Alle tun ganz begeistert darüber, was wir können, dabei wollen sie sich nur betrinken, weil Silvester ist, und finden uns wahrscheinlich total scheiße. Ihr könnt mich alle mal, denke ich“
Aber hier endet die Geschichte noch nicht. Wird es doch noch einen kleinen Etappensieg für die Idylle geben? Die Kinder sind in dieser Geschichte nicht selten handlungsfähiger als ihr erwachsenes Umfeld. Bildung hat heilsame Wirkung. Und Versöhnung kann es auf vielen Ebenen geben. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.
Ich habe diesen Roman so gern gelesen, weil er die Härte des Lebens zeigt und mich trotzdem zum Lachen gebracht hat. Die Geschichte zeigt die Kraft, die Kinder aufbringen können: Michael kämpft um seine Mutter, für das Glück seiner Familie, gegen ihr Trauma und gegen den Vergewaltiger, den er irgendwann am Ende der Geschichte „Mas Monster“ nennen wird. Und ich habe den Roman schließlich auch deshalb gern gelesen, weil er viele ebenso eigenwillige wie liebenswerte Helden hat, Figuren, die tapfer durch ihr Leben gehen und ihre Suche nach dem Glück nicht aufgeben – dies geht an euch, Granny und Dirty Alice!
Lisa O’Donnell: Die Geheimnisse der Welt
Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
DuMont Buchverlag 2015
ISBN 978-3-8321-9779-7