„Die Entdeckung der Currywurst“ von Uwe Timm ist für mich ein Lieblings- und Lebensbuch, denn es begleitet mich nun schon seit über zwanzig Jahren. In den verschiedenen Phasen meines Lebens entdecke ich beim Lesen immer wieder neue Gedanken und Bilder, die ich nach der letzten Seite mitnehme.
Lieblingsbücher sind ein Stück Heimat und diese Vertrautheit konnte ich in diesem Jahr an den Osterfeiertagen gut gebrauchen, an denen es aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht möglich war, Freunde und Familie zu treffen. Da waren sie wieder: Lena Brücker und der Marinesoldat Bremer, Lena Brückers Strickzeug, die Imbissbude, Hamburg.
Als ich dieses Buch das erste Mal las, war gerade mein Herz gebrochen. Das Buch war ein Geschenk und sollte mich trösten. Genau das tut es bis heute. Besser gesagt: Die Figur der Lena Brücker tröstet mich immer aufs Neue. Lena Brücker ist eine Kalypso des Kriegsendes. Eine Trümmerfrau, die aus den Ruinen ihres Lebens immer wieder aufsteht. Sie lässt Federn, trägt Narben davon, aber am Ende steht sie wieder.
Zuerst las ich das Buch als Liebesgeschichte. Mittlerweile lese ich es als eine Geschichte über einen Neuanfang, der in dem Buch durch ein Wunder möglich und damit wunderbar ist. Das Leben geht weiter.
Die Geschichte von Lena Brücker, deren beste Tage bald vorüber sind und die ihrem jungen Geliebten, der desertiert ist und sich bei ihr versteckt, das Kriegsende verschweigt, um noch ein paar Tage ihn und damit das Glück zu behalten, ist eine große Geschichte in der kurzen wie kunstvollen Form einer Novelle.
„Die Entdeckung der Currywurst“ ist dicht erzählt und reich an Motiven und Figuren, die im Gedächtnis bleiben und immer wieder neu zu entdecken sind. Mein Oscar für die beste Nebenrolle geht in dieser Leserunde an Kantinenchef Holzinger, der seine Stelle beim Reichsender verloren hat, weil die Rundfunksprecher immer dann an rätselhaftem Brechdurchfall litten, wenn militärische Erfolge zu verkünden waren.
In diesem Jahr habe ich „Die Entdeckung der Currywurst“ voller Heimweh nach dem Norden und nach Hamburg gelesen. Ich markiere mir bei jedem Lesen neue Sätze. Dieses Mal ist es die Begründung dafür, dass das Geheimnis der Currywurst nur im Norden wirken kann:
„Die südlichen Länder hingegen erwiesen sich als resistent, allzusehr, da hat Frau Brücker recht, gehört ein in Bäumen und Büschen westender Wind dazu. Ihre Herkunft hängt mit dem Grau zusammen, dessen Gegensatz im Schmecken das Rotbraun ist. (…) man muß sie im Stehen essen, so zwischen Sonne und Regenschauer, zusammen mit einem Rentner, einem ausgeflippten Mädchen, einem nach Pisse stinkenden Penner, der einem seine Lebensgeschichte erzählt, einem King Lear, so steht man und hört eine unglaubliche Geschichte, mit diesem Geschmack auf der Zunge wie die Zeit damals war, aus der die Currywurst kam: Trümmer und Neubeginn, süßlichscharfe Anarchie.“
Und als ich heute die letzten Seiten las, stand für mich fest, dass ich so schnell wie möglich wieder nach Hamburg muss. Um über die Köhlbrandbrücke zu fahren, auf die Docks zu schauen und am Hafen zu stehen. Und um auf Lena Brücker eine Currywurst zu essen.
Uwe Timm: Die Entdeckung der Currywurst
Kiepenheuer &Witsch 1993
ISBN 978-3-462-02461-2