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Spurensuche

„Die Bagage“ nennen die Dorfbewohner die Familie Moosbrugger, die zur Zeit des Ersten Weltkriegs am Ende eines Tals in Vorarlberg lebt, weitab von allen anderen Bewohnern. Jeder im Dorf beäugt die Moosbruggers argwöhnisch: ihre Armut, die nebulösen Geschäfte des Vaters Josef, vor allem aber die Schönheit von Maria, der Mutter, ist es, die die Menschen am meisten provoziert. Als Josef in den Krieg zieht, bittet er den Bürgermeister, auf Maria aufzupassen, damit sie ihm kein anderer Mann wegnimmt. Maria ist nun mit ihren vier Kindern auf sich allein gestellt. Eines Tages begegnet sie Georg, einem Deutschen, der für ein paar Tage in der Gegend ist. Maria wird schwanger. Das Kind, das sie zur Welt bringt, ist die Mutter der Erzählerin. Mit diesem Kind, Grete, wird Josef Moosbrugger nie ein Wort wechseln und er wird es keines Blickes würdigen.

Monika Helfer erzählt die Geschichte ihrer Familie und verflechtet dabei Vergangenheit und Gegenwart, erforscht, was geschehen sein mag, erinnert sich, ruft sich Gespräche mit einzelnen Familienmitgliedern in Erinnerung. Sie erzählt die Armut, die Besonderheit, das Prekäre. Sie beschönigt nicht, urteilt nicht. Monika Helfer ist eine ehrliche Erzählerin. Ihre Sprache ist von einer außergewöhnlichen Schönheit, denn sie ist nicht glatt, sie ist keine Schriftsprache, sondern eine gesprochene und dadurch sehr wahrhaftige Sprache. Die Sprache erkundet und zeigt den individuellen Versuch, die eigene Herkunft zu ergründen und zu verstehen:

„Irgendwann sagte ich zu ihr, da war ich acht und war schon voll der Empörung über unsere Familie, weil ich schon so viele Geschichten gehört hatte, über die Brüder meiner Mutter vor allem, von denen, außer dem Hermann, keiner so war wie andere Männer, da sagte ich zu meiner Mutter: ‚Niemand redet so wie du! Immer redest du so, wie niemand redet! Warum redest du so, wie niemand sonst redet!‘ Und sie sagte: ‚Gib mir ein Beispiel! Und verurteile mich nicht!‘ Und ich sagte: ‚Zum Beispiel: Schau mir ins Augeninnere. Niemand sagt, schau mir ins Augeninnere. Wenn einer schon so etwas sagen will, dann sagt er, schau mir in die Augen, aber nicht ins Augeninnere!‘ Das habe sie von ihrer Mutter, sagte sie. ‚Von deiner schönen Großmutter.‘ Und sprach in einem Atemzug weiter: ‚Die war wie du.‘“

Maria und Josef Moosbrugger – das ist keine heilige Familie. Und jede andere Familie mag auf ihre ureigene Art ebenso wenig heil, geschweige denn heilig sein. „Die Bagage“ erzählt von der Ausgrenzung einer Familie und von der Stigmatisierung einer Frau durch die Dorfgemeinschaft, allen voran durch ihre Würdenträger: den Bürgermeister, der selbst Maria nachstellt und die Familie bedroht, und den Pfarrer, der eigenhändig das Kruzifix am Haus der Familie abnimmt:

„Die Frauen plärren, wenn sie dein Gesicht sehen, und sie gehen ihren Männern auf die Nerven. Warum nicht ich? Das sagen sie. Als hätte der Mann dein Gesicht gemacht, damit er es anstarren kann. Sie kommen zu mir in den Beichtstuhl und sagen das. Warum nicht ich? Als hätte ich dein Gesicht gemacht. Aus welchem Dreck denn, bitte? Aus welchem Dreck hätte ich so ein Gesicht kneten können?“

Mich hat vor allem die Geschichte der Kinder bewegt, von denen jedes auf seine Art mit allen Kräften versucht, die Würde der Familie zu bewahren und die Mutter, die sie so lieben, zu beschützen. Dieses Buch ist für mich ein Plädoyer gegen die Verurteilung von Armut, gegen die Abstempelung von ungeordneten Verhältnissen, gegen die schnelle bürgerliche Moral. Diese Geschichte bietet keine Helden auf. Das hat sie mit allen guten, weil wahren Familiengeschichten gemeinsam.

Monika Helfer: Die Bagage
Carl Hanser Verlag 2020
ISBN 978-3-446-26562-2

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  • Beitrag veröffentlicht:28. April 2020
  • Beitrags-Kategorie:Romane

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