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„Was, glaubst du, wird man sagen?“

Der Text ist kurz. Kein neunzig Seiten. Ich habe die Erzählung „Das gute Fräulein“ von Halldór Laxness vor über zwanzig Jahren gelesen, als ich zum ersten Mal nach Island reiste. Nun, wo der Sommer kommt und die Tage länger werden, denke ich an diese Reise zurück und hole das Buch aus meinem Regal. 

Die Geschichte beginnt als Idylle. Wie ihre Schwester Thurid soll Rannveig für zwei Jahre nach Kopenhagen reisen. Rannveig zieht es nicht in die Ferne, zu sehr fühlt sie sich ihrer Heimat und den Menschen in den Schären verbunden. Sie ist bereits dreißig Jahre alt, begabte Kunsthandwerkerin und bei jedermann dank ihrer Zugewandtheit und Gutmütigkeit beliebt. Die Eltern, ein Probst und seine Frau, drängen jedoch auf den Besuch einer Frauenschule in Dänemark, denn sie hoffen, dass Rannveig so einen Ehemann aus „besseren Kreisen“ findet, wie es bereits bei Thurid geglückt ist.

Alle hochtrabenden Pläne der Familie scheitern: Als Rannveig aus Kopenhagen zurückkehrt, ist sie schwanger. Die Tragödie nimmt ihren Lauf. Die Familie, allen voran die Schwester Thurid, setzt alles daran, einen vermeintlichen Schwiegersohn zu erfinden, bereitet eine aufwändige Hochzeit vor und inszeniert schließlich den Tod eines Ehemannes, den es nie gegeben hat. Rannveig wird zur Spielfigur degradiert und zum Schatten ihrer selbst. Als schließlich ihr Kind geboren wird, kehrt das Glück zu Rannveig zurück:

„Sie lächelte wieder allen zu, die vorbeigingen, sie zeigt ihnen ihren Sohn. Und alle, die vorbeigingen, bewunderten ihren Sohn und wünschten ihnen Glück und Gottes Segen. Und manchmal ging sie mit ihrem Sohn ins Dorf hinaus, wenn die Sonne in der mittäglichen Windstille am wärmsten leuchtete, und zeigte auch den armen Häuslerfrauen ihren Sohn, denn jetzt fühlte sie sich genauso reich wie diese.“

Unter einem Vorwand wird Rannveig von ihren Eltern auf eine kurze Reise gelockt. Als sie heimkehrt, ist das Kind fort. Thurid hat es nach Dänemark gebracht. Rannveig wird bis zur letzten Seite immer wieder alles genommen. Sie wird systematisch enttäuscht, betrogen und verraten. 

Was macht mich zorniger? Rannveigs Duldsamkeit oder die Macht der Verhältnisse, die grausame Selbstgerechtigkeit der Familie? 

Laxness hat diese Erzählung in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts geschrieben. Er sympathisierte in dieser Zeit mit dem Sozialismus und so ist diese Erzählung als eine Kritik des Bürgertums zu lesen. Der Text ist zeitlos, denn er funktioniert als Herausforderung des Lesers immer wieder erneut: Laxness erzählt mitunter wie ein Chronist, zitiert die Scheinmoral und Schönfärberei der Familie, fordert den Leser heraus, diese Doppelbödigkeit der Erzählung zu erkennen und enttarnt dadurch die Grausamkeit der Dorfgesellschaft. Die Geschichte endet mit einem Vergleich, über den ich lange nachdenke:

„Es heißt, der Vater der Nornen habe einmal alle Nornen zu einem Fest geladen. Die meisten kannten einander von früher, nur zwei hatten sich noch nie zuvor gesehen, als der Herr sie in seinen großen Saal zusammenführte. Wie sie hießen? Die eine hieß Aufrichtigkeit, die andere Wohlanständigkeit.“

Halldór Laxness: Das gute Fräulein
Erzählung
Aus dem Isländischen von Hubert Seelow
Steidl Verlag 1997

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