Yoko Ogawas „Insel der verlorenen Erinnerungen“ ist bereits 1994 im japanischen Original erschienen, wurde 2019 erstmals ins Englische übersetzt und ein Jahr später für den Booker Prize nominiert. Der Roman liegt seit 2020 auch in deutscher Übersetzung vor und gehört für mich zu einer meiner bewegendsten Lese-Erfahrungen der letzten Jahre. Ogawa erzählt eine poetische Dystopie, die mich erschüttert hat und die mich angesichts der Vielzahl ihrer Lesarten fasziniert:Auf einer namenlosen Insel verschwinden Dinge. Von einen Tag auf den anderen sind sie nicht mehr da und verlieren ihre Bedeutung und Funktion: Hüte, Parfum, Vögel, Rosen. Die Menschen brauchen die Dinge fortan nicht mehr, sie werfen die restlichen Exemplare der verschwundenen Dinge fort, vernichten sie und fügen sich in deren neue Nicht-Existenz. Auch die Erinnerung an diese Dinge und an die Gefühle, die sie in den Menschen ausgelöst haben, verblassen. Bald schon weiß niemand mehr, dass diese Dinge einmal existiert haben.
Doch einige wenige Menschen können nicht vergessen. Sie stehen im Fokus der Erinnerungspolizei, die verhaftet, deportiert, offensichtlich auch ermordet.
Die Mutter der namenlosen Erzählerin war Bildhauerin. In ihrem Atelier versteckte die Mutter verschwundene Gegenstände und zeigte sie heimlich ihrer Tochter: ein Glöckchen, eine Briefmarke, einen Smaragd. Eines Tages wurde die Mutter abgeholt, kurze Zeit später war sie tot. Nachdem auch der Vater, ein Ornithologe, gestorben ist, lebt die Schriftstellerin allein. Sie schreibt Romane:
„Es sind alles Geschichten, in denen etwas verschwindet. Sowas mögen die Leute. Auf unserer Insel ist die Schriftstellerei eine Tätigkeit, die nicht besonders hoch angesehen ist. Man kann nicht behaupten, dass es hier von Büchern nur so wimmelt.“
Die Erzählerin besucht regelmäßig ihren Lektor R. im Verlag. Als sie eines Tages erfährt, dass auch R. zu den Menschen gehört, die Erinnerungen bewahren und nicht vergessen können, versteckt sie R. in ihrem Haus. Der alte Mann, der auf dem Wrack einer Fähre lebt, ist ihr einziger Freund und hilft ihr, R. in dem Versteck zu versorgen. Die Erzählrein arbeitet weiter an ihrem Roman, bis eines Tages auch die Bücher verschwinden. Als plötzlich Kalender nicht mehr da sind, wechseln auch die Jahreszeiten nicht mehr und die Menschen verharren in einem ewigen Winter.
Ogawa erzählt „clean“ – der Bericht der Erzählerin beschränkt sich auf das Geschehen als solches, sie verliert sich nicht in Innensichten und Beschreibungen, sondern berichtet geradlinig und präzise von dem großen Verschwinden. Keine Inflation der Worte und der Emotionalität. Spannung entsteht aus der offensichtlichen und sich zuspitzenden Ausweglosigkeit der Situation.
Ogawas Roman eröffnet eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten: Eine Parabel des Totalitarismus, eine der großen negativen Utopien, die mit George Orwell und Ray Bradbury verglichen wird. Elke Brüns zeigt in der taz auf, dass der Roman auch auf die Erfahrung von Demenz bezogen werden kann – also eine individualistische Blickrichtung, mit der ich diesen Roman schließlich gelesen habe und die mich derzeit am meisten bewegt. Wie erlebt der Mensch den Verlust von Fähigkeiten, von Ding-Bedeutungen, von Erinnerungen, von physischen Fähigkeiten? Welche Konsequenz hat es, wenn ich Dinge nicht mehr zuordnen und benennen kann? Was bleibt von meinem Leben?
Ich habe vor einiger Zeit an einer Übung teilgenommen, die das Erleben von Demenzkranken verdeutlichen sollte: Ein Blatt ist mit vielen Puzzleteilen bedruckt. In der Mitte des Blattes ist ein kleiner Punkt, der Wesenskern des Individuums. In jedes Puzzleteil hatte ich einen Aspekt einzutragen, der mein Leben markiert, lebenswert macht, den ich mag und der mir Freude macht: Bücher, rote Schuhe, Radfahren. Den Namen meines Kindes. Den Namen meines Mannes. Danach mussten mit geschlossenen Augen wahllos Puzzleteile gestrichen werden, immer wieder aufs Neue, bis nur noch ein gutes Dutzend beschrifteter Teile stehenblieb. Das, was dann noch auf dem Blatt stand, war mein mögliches Erinnerungsinventar als Demenzkranke. Ich erinnere mich an die Angst davor, dass die Namen gestrichen sein konnten. Und ich erinnere mich daran, dass der Punkt, mein Wesenskern nicht streichbar war.
Was bleibt, wenn alles verschwindet? Kann alles verschwinden? Was geschieht, wenn Erinnerungen unterbunden werden? Ich lege Euch allen dieses Buch ans Herz und mache mich auf den Weg, um noch mehr von Yoko Ogawa zu lesen.
Yoko Ogawa: Insel der verlorenen Erinnerungen
Aus dem Japanischen von Sabine Mangold
Verlagsbuchhandlung liebeskind 2020
ISBN 978-3-95438-122-7