Triest am Ende des 19. Jahrhunderts: Alfonso Nitti kommt aus der Provinz in die Stadt, um als Angestellter im Bankhaus Maller zu arbeiten. Die Tage ziehen an dem jungen Mann vorüber, seine Arbeit im Büro bleibt ihm ebenso fremd wie seine Kollegen und deren Ränkespiele. Alfonso sieht seine wahre Bestimmung im Schreiben und im Studium philosophischer Texte. Vor der Ödnis des Büros flieht er in Bibliotheken und plant die Niederschrift eines bahnbrechenden philosophischen Werks. Im Haus des Bankiers Maller lernt er dessen Tochter Annetta kennen, die ihn zunächst ignoriert, dann aber in ihren engeren Kreis aufnimmt, um mit ihm gemeinsam an einem Roman zu schreiben. Alfonso fühlt sich von der kapriziösen Frau angezogen und glaubt, dass er sich in Annetta verliebt hat. Zärtlichkeiten werden ausgetauscht und nachdem beide miteinander geschlafen haben, sieht Annetta keinen anderen Weg als ihren Vater über das Liebesverhältnis zu dessen Angestellten in Kenntnis setzen. Alfonso soll für eine Zeit Triest verlassen, bis sich im Haus Maller die Wogen geglättet haben.
So beschließt Alfonso, in sein Heimatdorf zu reisen und seine Mutter zu besuchen. Als er aufbricht, ist ihm bereits klar, dass er sich selbst getäuscht hat. Er liebt Annetta nicht, lediglich das Spiel um ihre Gunst hat ihn gereizt. Seine Abreise aus Triest erlebt Alfonso als Rettung vor einem Leben, das er nicht führen will:
„Die Stadt war grau und traurig, eine sich ständig weiter verdichtende Wolke über ihrem Haupt schien von ihr selbst hervorgebracht, da durch Rauchfahnen mit ihr verbunden, dem einzigen Anzeichen ihrer Lebendigkeit. Dort drinnen, in diesem Bienenstock, rackerten die Menschen sich ab für Gold, und Alfonso, der das Leben dort kennengelernt hatte und glaubte, nur dort sei es so, atmete auf; durch seine Flucht befreite er sich aus dieser Dunstglocke.“
Zurück in seinem Dorf, erfährt Alfonso, dass seine Mutter im Sterben liegt. Er bleibt länger als geplant, begleitet die Mutter in ihren letzten Wochen und verkauft schließlich das Haus seiner Familie. Als er nach Triest zurückkehrt, ist Alessandra mit einem anderen verlobt und Alfonsos Zukunftsperspektiven lösen sich nach und nach auf.
Ettore Schmitz (1861-1925), so der bürgerliche Name des „italienischen Schwaben“ Italo Svevo, gelangte erst in seinen späten Jahren zu literarischem Ruhm. Er lebte wie sein Held Alfonso zunächst als Bankangestellter, später als Unternehmer in Triest. Sein literarisches Schaffen fand neben einem bürgerlichen Berufsleben statt, und hätte Ettore Schmitz in Triest nicht Englischunterricht bei James Joyce genommen, wäre sein Werk womöglich unentdeckt geblieben. Joyce las die Texte seines Schülers, ermunterte ihn weiterzuschreiben und wurde schließlich Svevos Fürsprecher. Heute zählen Svevos Werke zur Weltliteratur.
„Ein Leben“ ist Svevos erster Roman, erschien 1892 im Selbstverlag und blieb lange Jahre unbeachtet. Grund dafür mag sein, dass Svevo seiner Zeit ein Stück voraus war, denn Alfonso Nitti ist gleich in doppelter Hinsicht ein Held der Moderne: Er scheitert, denn er imitiert nur das Leben, das er eigentlich führen möchte. Keines seiner Ziele kann er schließlich in die Tat umsetzen. Der Traum vom philosophischen Opus Magnum bleibt Theorie, deren Inhalt sich dem Leser nicht erschließt, Alfonsos literarisches Schaffen beschränkt sich auf eine substanzlose Spielerei mit Annetta, seine vermeintliche Liebe zu der Tochter aus reichem Haus enttarnt er vor sich selbst als Trugbild und sein Bestreben, in die Kreise des Hauses Maller aufzusteigen, bleibt erfolglos. Alfonso ist ein tragischer, weil ehrlicher Held, denn er erkennt seine Selbsttäuschungen ebenso wie die strategischen Machenschaften seiner Mitmenschen. Eine wirksame Konsequenz zieht er daraus nicht. Alfonso bleibt handlungsunfähig. Sein Scheitern ist vorprogrammiert.
Alfonso Nitti ist Angestellter und vertritt als Romanheld diese noch junge Gesellschaftsgruppe, die am Ende des 19. Jahrhunderts gerade erst begann sich zu formieren. Edgar Sallager zitiert im Nachwort Paul Heyse, der sich an Svevos detaillierter Beschreibung zeitgenössischer Sachbearbeitung störte und Svevo zu einem anderen Sujet als der Büroarbeit riet. Doch genau dies macht die von Sallager aufgezeigte „sozialpsychologische Erzählprogrammatik“ Svevos aus, die ihn zu einem universellen Erzähler macht: Svevo erfasst die Relevanz von Arbeit für den modernen Menschen, indem er ihr in seinem Text so umfangreich Raum gibt, wie es der zeitgenössischen wie aktuellen Lebenswirklichkeit entspricht. Arbeit ist kein Nebenschauplatz. Arbeit ist mehr als das halbe Leben. Svevo verwendet Termini aus dem Bankwesen, schildert die bis zur Sinnlosigkeit zerfaserten Prozesse der Kopisten, angesichts derer Alfonso längst resigniert hat und die seinem Dasein kafkaeske Züge verleihen. Die Kompetenzstreitigkeiten und Verhaltensweisen im Bankhaus Maller sind zeitlose Teamkonflikte, Svevo beschreibt Mobbing und Burn-Out-Entwicklungen. Die Fähigkeit der psychologischen Figurenzeichnung korrespondiert mit Svevos Affinität zu Sigmund Freud, dessen „Traumdeutung“ er zwei Jahrzehnte später ins Italienische übersetzen sollte.
Es lohnt sich, den Erzähler Italo Svevo zu entdecken, der – James Joyce sei Dank – doch noch den verdienten literarischen Weltruhm erreicht hat und bereits vor fast 130 Jahren mit klarem Blick die Gefahrstellen moderner Arbeit aufgezeigt hat.
Italo Svevo: Ein Leben
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner.
Mit einem Nachwort von Edgar Sallager.
Diogenes Verlag AG Zürich 2011
ISBN 978-3-257-24079-5