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Mutterseelenallein

Ein Interview und eine Lesung auf EinsLive hatten mich auf Laura Dürrschmidt und ihren Debütroman „Es gibt keine Wale im Wilmersee“ aufmerksam gemacht. Zunächst blieb ich aus reiner Neugier auf dieser Frequenz, denn Laura Dürrschmidt hat in Mainz Buchwissenschaft studiert so wie ich vor vielen Jahren. Dann hörte ich der Lesung zu und nach wenigen Sätzen war mir klar, dass ich den ganzen Text nicht nur aus gefühlter familiärer Verbundenheit zu einer Absolventin „meines“ Faches lesen wollte, sondern weil mich Sprache und Erzählweise der Autorin faszinierten. 

Laura Dürrschmidt erzählt die Geschichte einer namenlosen jungen Frau, die als Kind gemeinsam mit ihrer Zwilligsschwester Alice auf dem zugefrorenen Wilmersee eingebrochen ist und gerettet wurde, während Alice im eisigen Wasser des Sees ertrunken ist:

„Ich war nicht mehr ich, als ich aus dem Wilmersee zurückkam“, wird die Erzählerin sagen. Der Text beschreibt ihren Identitätstverlust, den der Tod der Schwester ausgelöst hat, und den Zerfall der Familie, der mit dem Unglück seinen Lauf genommen hat: 

Die Eltern entfremden sich. Die Mutter geht von der Familie fort. Die Erzählerin und ihre älteren Geschwister Ingrid und August bleiben in dem Haus zurück, das mittlerweile baufällig geworden ist. Der Vater hat sich in sich selbst und seine Geschichten zurückgezogen. Eines Tages geht auch er. Wohin er geht, lässt der Text offen. Die Mutter hält per Telefon zu den Kindern Kontakt, möchte sie zu sich holen in den Süden, doch die Kränkung der Kinder macht eine Annäherung unmöglich:

„Dann kam Ingrid nach Hause und fragte mich, wer das am Telefon wäre, und ich sagte es ihr, und da nahm sie mir den Hörer aus der Hand und knallte ihn in die Halterung. Und dann sahen wir uns an. Ich glaube, wir wussten beide, wieso wir Mutter verachteten. Weil, wo auch immer genau sie steckt, ihre Gardinen bestimmt ganz weiß waren.“

Eines Tages steht Jora vor der Tür, eine junge Frau, die scheinbar ohne Ziel durch das Land fährt. Auch Jora trägt ihren ursprünglichen Namen nicht mehr, weil sie sich einen neuen gewählt hat. Auch Jora hat zu ihren leiblichen Eltern ein gebrochenes Verhältnis, während sie bei ihrer Stiefmutter Verständnis gefunden hat – und mit deren Hilfe sogar einen passenden neuen Namen. Nun ist die Stiefmutter fort. Jora gelingt, dass sich die Erzählerin öffnet und Vertrauen fasst. Was aber Jora wirklich zu den Geschwistern geführt hat, lässt der Text lange offen. 

„Es gibt keine Wale im Wilmersee“ handelt von Verlusten, Verlassenwerden und von Trauer. Die Ich-Erzählerin eröffnet dem Leser in einer dichten, tastenden Sprache einen Einblick in ihre Einsamkeit und Entfremdung:

„Ein Kind ohne Namen, ein Kind, das nicht hieß, ein Kind, das nicht gerufen werden konnte, so ein Kind konnte unmöglich echt sein, und so ein Kind gehörte nirgendwohin. Ich konnte mich in meiner Familie nicht verorten.“

Erzählen dient nicht dem Zweck, Fakten zu beschreiben. Erzählen ist für die Protagonistin ein Mittel, um die Wahrheit schmerzhaft auszuloten:

„Aber man kann auch sagen, da waren ein Auto und eine nasse Straße und Schlamm auf den Dielen (…) Aber so kann ich das nicht erzählen, so würde ich nur tun, was meine Familie immer getan hat, nämlich ihre Wahrheiten in Einmachgläsern im Regal verstauben lassen. Und wenn man die Einmachgläser dann öffnet, viele Jahre später, dann sind die Wahrheiten kaum noch zu erkennen.“

Erzählen ist Kraftakt, schwere Geburt, mit Schmerzen verbunden – für die Ich-Erzählerin wie für Jora, die sich mit Mühen das Stottern abtrainiert hat und nun in einem eigenen Duktus spricht. Sprache fließt nicht, Sprache fordert Kraft, Sprache ist ein Werk.

Laura Dürrschmidts Debüt war für mich ein Erlebnis und ich hoffe auf weitere Texte der Autorin. Dieses Buch sollte man im Übrigen mit einem griffbereiten stumpfen Bleistift lesen, um immer wieder Sätze zu markieren. Ich schlage den Buchblock auf und finde auf jeder Seite eine Textstelle, die es als solche und für sich zu lesen lohnt:

„Ich habe Erfahrungen mit Rissen und Mustern. Weil meine Welt so oft zerfallen ist und neu zusammengesetzt werden musste wie eine zerbrochene Vase. Weil ich Muster gut und sicher fand und finde, weil ich sie überall finden kann, in den Ästen, in der Holzmaserung, in der Tapete, in meiner Haut. Und weil ja jeder ein Puzzle lebt, weil wir alle in die Welt geworfen werden und alles schon da ist, alles schon tausend Jahre steht und wir uns erst unsere Teile zusammensuchen und verknüpfen müssen, das macht uns überhaupt erst zu einer Person. Man puzzelt sich vorwärts, bis die Teile ausgehen, dann ist es aus.“

Ich streife durch das Netz und finde Beurteilungen, die sich hier und da mehr Aktion erhofft hätten. In der Tat stagniert die Handlung im mittleren Teil des Textes. Ich finde dies legitim, denn es dokumentiert für mich die von der Erzählerin erlebte Endlosigkeit der Entfremdung, das Sich-im-Kreis-Drehen, die Herausforderung der Ebene. Das Ende ist eine gute Lösung. 

Ich wünsche mir noch ein Buch von Laura Dürrschmidt.

Laura Dürrschmidt:
Es gibt keine Wale im Wilmersee
Ecco Verlag 2021
ISBN 978-3-7530-00060

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  • Beitrag veröffentlicht:13. Dezember 2021
  • Beitrags-Kategorie:Romane