Der Zweite Weltkrieg ist gerade vorbei, als sich der sechzehnjährige Robert Appleyard aufmacht, um den Nordwesten Englands zu durchwandern. Er schnallt seinen Rucksack um und geht los, um noch einmal frei zu sein, bevor er wie seine Vorfahren die Arbeit in den Kohlebergwerken aufnimmt. Der Sommer liegt über dem Land und Robert genießt die Eindrücke mit jeder Faser seines Körpers, saugt die Natur und die Freiheit in sich auf. Eines Tages kommt er an eine Bucht und oberhalb der Küstenlinie steht er plötzlich vor Dulcies Cottage, einem mitten im Wald liegenden, von Wein umrankten Haus:
„Irgendetwas bewog mich, diesem Sträßchen zu folgen, obwohl es sich ausnahm wie eine Sackgasse. Es sollte einer dieser Momente werden, in denen das Leben einen neuen Weg eröffnet, dessen Bedeutung sich vielleicht erst Jahre später voll und ganz erfassen lässt.“
Dulcies Alter erfährt der Leser nicht – „für junge Menschen sieht jeder über vierzig alt aus“, sagt Robert irgendwann. Ich gebe ihm hier schweren Herzens Recht. Dulcie ist ein Mensch wie ein Naturereignis: frei, stolz, unkonventionell. Sie trägt Kleidung, die Robert als „viktorianisch“ einstuft, kombiniert mit Pumphosen, lebt allein mit ihrem Deutschen Schäferhund Butler, fährt alte Autos wie ein Henker, ernährt sich von den Geschenken der Bauern und Fischer und dem, was ihr wilder Garten ihr bietet. Dulcie ist ein trinkfester Haudegen, kann fluchen wie ein Droschkenkutscher und verstößt mit Freude gegen die Regeln des guten Benimms. Das Cottage ist ihr Refugium, dass sie, die einer großbürgerlichen Familie entstammt, frei gewählt hat, um sich ihrer Leidenschaft für die Natur und für Literatur hinzugeben. Und tief in Dulcies Herzen sitzt ein Schmerz und ein Verlust, den Robert in diesen Wochen ergründen wird.
Robert bleibt in diesem Sommer bei Dulcie, geht ihr bei der Arbeit zur Hand, mäht das Gras und als Lohn dafür darf er in ihr Gartenhaus ziehen, wo er zahlreiche Bücher und ein Manuskript voller Lyrik findet, in das er sich in den langen Sommernächten vertieft. So entsteht eine Freundschaft zwischen dem ungleichen Paar und zu Roberts Verwunderung ist Dulcie der erste Mensch, der ihn auf Augenhöhe akzeptiert, dem seine Meinung wichtig ist und der ihn als das, was er ist, ernst nimmt. Die langen Gespräche mit Dulcie geben Roberts Leben und Denken eine neue Richtung:
„Jeder junge Mann, der sein Leben geplant hat, ist zu bemitleiden, da Pläne kaum Platz für Zufälle und unerwartete Entdeckungen lassen. Und überdies ist jeder Mensch an sich – falls er überhaupt menschlich ist – eine sich ständig verändernde Entität, ebenso wie die Welt um ihn herum. Was für ein trostloses Leben führen doch diejenigen, die sich familiären Erwartungen und Traditionen beugen.“
Benjamin Myers Roman „Offene See” wurde 2020 von den unabhängigen Buchhandlungen zu ihrem Lieblingsbuch gewählt. Ich habe es spät, nämlich erst jetzt gelesen, und es ist für mich wie eine Verheißung am Beginn eines neuen, noch völlig unbeschrieben vor mir liegenden Jahres. Es ist ein Buch über den unendlichen Reichtum der Natur – das „Wunderland“, in das Robert eintaucht. Die Üppigkeit der Landschaftsbeschreibung hat mich in ihren Bann gezogen, mich im Geist ans Meer geführt und mitten im grauen Januar den Sommer fühlen lassen. Es ist ein Buch über einen Aufbruch, über Freiheit, über Freundschaft, über Großzügigkeit, über Trauer und über Liebe. Robert gewinnt in dem Haus oberhalb der Bucht Selbstbewusstsein im besten Sinne. Er wird sich seiner selbst als frei handelnder und denkender Mensch bewusst und er wird im weiteren Verlauf der Geschichte auf wunderbare Weise für sich und sein Leben Verantwortung übernehmen.
Dieses Buch zu lesen hat in mir die Erinnerung wachgerufen an Sommer, in denen alle Jahre noch vor mir lagen, an sechs Wochen Ferien ohne Pflicht, in denen man sich neu erfunden hat. „Offene See“ ist ein wirklicher Schatz und meine Leseempfehlung am Anfang dieses neuen Jahres.
Benjamin Myers: Offene See
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
DuMont Buchverlag 2020
ISBN 978-3-8321-6598-7