You are currently viewing “Wir bleiben Kinder von Kindern”

“Wir bleiben Kinder von Kindern”

Die Geschichte beginnt auf einem Krankenhausflur. Wie jeden Tag besucht Timna ihren alten Vater Otto, der zum ungezählten Mal dem Tod von der Schippe gesprungen ist. Gerade hat er ein Wachkoma überstanden. Im Gespräch mit dem Krankenhauspfarrer vergleicht Timna den Vater mit Jesus – „Ich bekam jeden Zyklus von Vergehen und Wiederaufstehen mit“. Otto ist Pflegefall, Familientyrann und steht wie ein selbsternannter Sonnenkönig im Zentrum des gleichnamigen, vielfach ausgezeichneten Romans von Dana von Suffrin. 

Alle Erzählstränge nehmen ihren Anfang bei Otto. Die Erzählerin Timna kann sich wie ihre Schwester Babi nicht von diesem Vater lösen, der seine Kinder seinerseits nicht freilässt, sie gnadenlos einspannt, mit Forderungen überschüttet, die er als „schöne Bitten“ verpackt. Ottos Leben ist ein Kaleidoskop der Geschichte des 20. Jahrhunderts: Siebenbürger Jude, dem Holocaust entkommen, irgendwann in München gestrandet. Otto ist notorisch geizig, misstrauisch, übergriffig – Otto ist schlichtweg ein unmöglicher Mensch. Und trotzdem mag ich, die Leserin, diesen Tyrannen, der mit kindlicher Selbstverständlichkeit eine Forderung nach der anderen stellt und sich die Welt so zurechtlegt, wie sie ihm gefällt. Ich begreife, weshalb die Erzählerin das letzte Kapitel mit „Gedanken des Hasses und der Liebe“ überschreibt. Einzig wirksamer Schutz vor Ottos Allmachtsanspruch, ist Sarkasmus. Damit rettet die Erzählerin sich selbst und sie rettet ihren Helden Otto, denn sie macht ihn damit für uns Leser liebenswert:

„Otto, Ingenieur, gebürtig in Rumänien, Herr über ein Reihenhaus und zwei unglückliche Töchter, war schon eine Heimsuchung, bevor er ins Krankenhaus kam. Als er entlassen wurde, geschah, was niemand für möglich gehalten hatte: Es wurde noch viel schlimmer.“

Timna erzählt die Geschichte Ihrer Familie mit bitterem, treffsicheren Humor. Dieser ist Ermöglichungsstruktur, schafft rettende Distanz und macht Unsägliches sagbar:

„Auch Babi und ich waren greise Kinder gewesen, ganz alte Menschen in Micky-Maus-Kleidern, die zuviel ahnten vom Gang der Welt und von den Dingen, die hinter jedem Jahr lauerten, denn auch wenn alle Erwachsenen immer nur Andeutungen machten, hatten wir begriffen, dass unsere Familie viel zu klein war, dass überall der Tod nachstellte, dass nichts zusammenpasste; und dann waren aus den greisen Kindern kindische Erwachsene geworden.“

Timna vergleicht die Familie – Otto, ihre alkoholkranke Mutter und die suizidgefährdete Babi – mit einem Knäuel von Rattenschwänzen. Alle Tiere wollen in unterschiedliche Richtungen, können sich aber nicht von der Stelle bewegen, weil sie zu fest miteinander verwoben sind. Ein Bild, das in unterschiedlicher Tiefenschärfe auf viele Familien anwendbar sein mag. Dies macht von Suffrins Roman universell, denn jeder Leser findet sich in einem Strang wieder. Und sei es als Zerrbild. 

Dieses Buch ist tiefes Wasser. Es formuliert bittere Wahrheiten, erzählt von einer zerrütteten Familie, von den Juden in Siebenbürgen, vom Altwerden, von Krankheit, Tod, von Abhängigkeiten auf unterschiedlichsten Ebenen. Es ist ein Buch, in dem sich zum Schreien komische Sequenzen neben Tragödien reihen. Gewidmet ist es allen pensionierten Ingenieuren. Ich habe es mit großem Vergnügen gelesen.

Dana von Suffrin: Otto
Verlag Kiepenheuer & Witsch 2021
ISBN 978-3-462-00143-3

Teile diesen Beitrag
  • Beitrag veröffentlicht:25. Januar 2022
  • Beitrags-Kategorie:Romane