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Der Drache

Im Januar 2020 macht sich die Journalistin Christiane Hoffmann zu Fuß auf den Weg. Sie wird die 550 km lange Strecke gehen, die ihr Vater als neunjähriger Junge im Winter 1945 auf der Flucht vor der heranrückenden Roten Armee gegangen ist. Dieser Weg beginnt in dem kleinen schlesischen Dorf Różyna, das früher Rosenthal hieß, und führt über Zittau bis nach Tschechien, wo der Flüchtlingstreck im März 1945 unweit von Eger ankam. Hoffmann, studierte Slawistin und Historikerin, ehemalige Auslandskorrespondentin in Moskau, erzählt in ihrem Buch „Alles, was wir nicht erinnern“ die Geschichte ihrer Familie, ein Stück europäischer Geschichte und mehr: Dieses Buch ist ein ebenso persönlicher wie literarischer Text über die Auswirkung von Flucht auf die Flüchtlinge selbst und über die Nachwirkung der Fluchterfahrung in der folgenden Generation.

Es hat mich berührt wie seit langer Zeit kein anderes Buch.

Der Angriffskrieg Putins auf die Ukraine tobt seit über zwei Wochen. Unsere Glaubenssätze und Haltungen zur außenpolitischen wie persönlichen Sicherheit sind im freien Fall. Was liest man in diesen Tagen außer allen greifbaren Zeitungsberichten und Reportagen? Angesichts der Bilder, die das unsägliche Leid der ukrainischen Bevölkerung dokumentieren, mag ich keine Zerstreuung suchen. Christiane Hoffmanns Bericht liegt seit einiger Zeit auf meinem Stapel ungelesener Bücher. Ihr Thema hatte sofort mein Interesse erweckt. Es nimmt in der Geschichte meiner Familie und damit in meiner Identität einen bestimmenden Raum ein. Meine Eltern sind Flüchtlingskinder aus Niederschlesien, die ihre Erlebnisse stark geprägt haben. Die Bilder der Menschen, die gerade aus der Ukraine auf der Flucht sind, wecken in mir die Erinnerung an die Ängste und Traumatisierungen, die Teil unserer Familiengeschichte sind. Flucht hat für mich immer das Kindergesicht meiner Eltern.

Nachdem Scheitern des deutschen Russlandfeldzugs, der als Vernichtungskrieg gegen die slawische und jüdische Bevölkerung geführt wurde, erreichten im Herbst 1944 die ersten Truppen der Roten Armee Ostpreußen. Die Furcht vor der Vergeltung deutscher Greueltaten setzte die wohl größte Fluchtbewegung der Geschichte in Gang, durch die über zwölf Millionen Deutsche ihre Heimat verlassen sollten. In den niederschlesischen Gebieten, die die Deutschen zurückließen, wurden Polen angesiedelt, die aus den so genannten Kresy kamen, den polnischen Ostgebieten, die sich Sowjetrussland unter Stalin einverleibt hatte und die heute unter anderem zur Ukraine gehören. An der polnischen Ostgrenze treffen heute erneut hunderttausende Menschen ein, die aus der Ukraine fliehen, weil sie gerade von einem Moment auf den anderen ihr bisheriges Leben und ihr Zuhause verloren haben. Flucht markiert diese Region nun also auch in diesem Jahrhundert, von dem wir erwartet haben, dass es das erste sein wird, in dem Europa dauerhaft in Frieden lebt.

Christiane Hoffmann weiß als Historikerin den Kausalzusammenhang zwischen dem Vernichtungskrieg Hitler-Deutschlands und der Flucht der deutschen Bevölkerung klar zu benennen – „Wie konnten die Rosenthaler auf Gnade hoffen?“. Als Journalistin dokumentiert sie die Gespräche, die sie auf ihrem Weg mit Polen, Tschechen und Deutschen über das Thema Flucht und Vertreibung führt, und macht hier unter anderem sichtbar, dass Vertreibung und Zwangsumsiedlung auch in der polnischen Bevölkerung zu tiefen Verwundungen geführt haben. Für die meisten Polen, die in den ehemals deutschen Ostgebieten angesiedelt wurden, blieb die neue Heimat ein Provisorium, aus dem man jeder Zeit wieder vertrieben werden mochte. Erst die Enkelgeneration beginnt, die ehemals deutschen Dörfer als Heimat zu gestalten und die Entwurzelung zu überwinden. Der Hinweis auf diese Verletzung ist wichtig, denn dieser Aspekt wird in meiner Wahrnehmung auf deutscher Seite nicht hinreichend gewürdigt.

Christiane Hoffmann schreibt außerdem als Tochter – ein mutiger, weil intimer Schritt. Die Verwundbarkeit, Trauer und Liebe, die hier zutage tritt, bewegt mich, und ich identifiziere mich mit ihr. Über jeden Vorwurf revisionistischer Gedanken erhaben, macht Hoffmann Trauer zulässig. Sie gibt dem persönlichen Schmerz über die bruchstückhafte und von Verlust geprägte familiäre Identität Ausdruck und Berechtigung: 

„Und so lernten wir die Heimat als etwas immer schon Verlorenes kennen, etwas, das nur unsere Vorfahren kannten, das wir selbst aber nie gehabt hatten und niemals haben würden. Die Heimat war ein Sehnsuchtsland, ein Paradies, aus dem wir immer schon vertrieben waren.“

Darf man in Anbetracht der deutschen Kriegsverbrechen überhaupt um eine verlorene Heimat trauern? Und wie kann dies aussehen? Für die Trauerarbeit nach dem Tod ihres Vaters hat Hoffmann die Körperlichkeit gewählt, die Wanderung, die sie in schwere physische Erschöpfung bringt. Wann immer sie als Tochter spricht, betritt sie die literarische Ebene ihres Textes, lässt rationale Ansätze fallen und findet so Zugang und Nähe zu dem, was ihre Familie erlebt haben mag: 

„Die Menschen auf der Flucht versinken in Apathie. Sie wanken nach Westen. Sie haben keine Hoffnung mehr, jemals anzukommen, wo sollte das auch sein? Du siehst, wie Deine Mutter verschwindet. Sie ist noch da, eine Hülle, aber sie ist nicht mehr Deine Mutter, mechanisch tut sie, was zu tun ist, Pferde einspannen, Pferde ausspannen, Pferde versorgen, noch da, aber nicht mehr anwesend. Du weißt, dass Du keine Fragen und keine Ansprüche stellen darfst, Du musst irgendwie sehen, wie Du durchkommst.“

Christiane Hoffmann durchwandert das Grenzgebiet zwischen Deutschland, Polen und Tschechien und fängt auf ihrem Weg wie ein Seismograph ein Stimmungsbild Osteuropas im Frühjahr 2020 ein. Corona wird erstmals in den Nachrichten erwähnt, ist aber noch ein chinesisches Problem. Was dieses Buch in diesen Tagen für mich brennend aktuell macht, ist der hellsichtige Hinweis auf den „osteuropäischen Geschichtskrieg“, in dem sich Polen, Russland und die Ukraine befinden und in dem Russland auf seiner Vormachtstellung als Sieger des Zweiten Weltkriegs beharrt: 

„Nichts ist vergangen, alles ist noch da und neu da immer wieder, sie sind verletzt und verbittert. Sie indoktrinieren kommende Generationen, sie erziehen Generationen von Erniedrigten und Beleidigten. Sie sind verbittert, weil sie den Sieg im Zweiten Weltkrieg so schwer erkämpft und dann den Kalten Krieg verloren haben, eine Niederlage, die wie sie glauben, ihren Sieg zunichte gemacht hat.“

Das Versäumnis, das Hoffmann Deutschland anlastet, ist, dass dieser Geschichtskrieg in seiner Tragweite nicht hinreichend erkannt wird:

„Wir Deutschen glauben, dass uns der Geschichtskrieg nichts angeht, den sie im Osten entfesseln. Wir glauben, die Vergangenheit sei vergangen und die Geschichte Geschichte. Wir glauben, dass wir sie aufgearbeitet haben und deshalb nun fein raus sind.“

Befürchtungen, die während ihrer Wanderung in ihr wach werden, sind wenige Wochen nach dem Erscheinen des Buches grausame Realität geworden:

„Was, wenn wir uns irren, wenn wir nicht merken, dass nichts vorbei ist und sie gerade dabei sind, den nächsten Krieg vorzubereiten, wenn unter der Asche immer noch Glut glimmt, in die sie jetzt hineinblasen, als müsse man sich nicht fürchten vor dem Feuer?“

Christiane Hoffmann verweist immer wieder darauf, dass Traumata aus Krieg, Flucht und Vertreibung auf die Folgegeneration übertragen werden. Als ein Beispiel hierfür berichtet sie von ihrer tiefsitzenden Kinderangst vor dem Krieg. Diesen Krieg symbolisiert das Bild des schlafenden Drachens, der jeder Zeit wachzuwerden droht. Dies ist nun geschehen. 

„Alles, was wir nicht erinnern“ ist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 nominiert, der in wenigen Tagen verliehen wird.

Ich wünsche mir, dass Christiane Hoffmann diesen Preis erhält. 

Christiane Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern
Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters
Verlag C. H. Beck 2022
ISBN 978-3-3406-78493-4

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