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Out of joint

Ich hatte schon Wochen vorher begonnen, den Bücherstapel für den Urlaub bereit zu legen. Sollte der E-Book-Reader wirklich mit? Das maximal zulässige Gewicht des Urlaubskoffers von 20 kg machte die Entscheidung nicht schwer. Digital lese ich selten, um nicht zusagen ungern. Als Leserin bin ich analog: Ich rieche an frisch gekauften Büchern. Außerdem markiere ich mit dünnen Bleistiftstrichen Textstellen, die ich für wichtig erachte, und klebe kleine Haftnotizen ein, um eindrucksvolle Passagen leichter wiederzufinden. All das funktioniert mit einem E-Book-Reader nicht, und so erscheint mir das digitale Lesen immer ein Stück weit seelen- und trostlos. Einzig auf Reisen kommt der Reader aus praktischen Gründen zum Einsatz. So auch in diesem Sommerurlaub. Und das war mein Segen.

Schon während der Anreise schwächelte ich, konnte kaum die Augen offen halten, und die halsbrecherische Fahrt vom Flughafen zu unserer Unterkunft verbrachte ich zur Verwunderung meiner Mitreisenden im Tiefschlaf. Am ersten Urlaubsmorgen war es offenkundig: Ich war krank. Krank genug, um die erste Woche im Schatten auf dem Balkon zu verbringen, aber nicht krank genug, um nicht zu lesen. Der Bücherstapel wurde kleiner, nichts von den eingepackten Büchern wollte mich restlos begeistern, einiges ärgerte mich sogar maßlos. Wieder genesen führte mich der erste Weg zum Baden ans Meer. Wollte ich wirklich die edle Leinen-Ausgabe von Moby Dick mit ans Wasser nehmen? Was hatte ich mir dabei nur gedacht, als ich diesen schöne Band in den Koffer für einen Badeurlaub geworfen hatte? 

Ich griff kurzentschlossen meinen E-Reader und machte mich auf die Suche nach dem nächsten Buch. Und weil noch gute zehn Tage Nichtstun vor mir lagen, öffnete ich Donna Tartts „Der Distelfink“. Ich hatte viel Gutes über dieses Buch gelesen, Sequenzen des Films irgendwo aufgeschnappt, irgendwann einmal mit den ersten Seiten begonnen und das Buch wieder zur Seite gelegt. Nun begann ich erneut. Es dauerte keine zwanzig Seiten, und ich war im Bann. Ich konnte von diesem Buch bis zur letzten Seite nicht mehr lassen. Besser gesagt: Das Buch hat mich nicht mehr losgelassen, und noch heute, während ich diese Zeilen schreibe, vermisse ich die Tage an Meer, an denen ich Theo Decker auf seinem Weg durch Trauer, Verzweiflung, Liebe, Mut und Hoffnung begleitet habe.

Der dreizehnjährige Theo Decker besucht mit seiner Mutter eine Kunstausstellung in New York. Als die beiden das Museum verlassen wollen, geht die Mutter noch einmal zurück in den Saal, um einen Blick auf ein Gemälde zu werfen. In diesem Moment bricht Theos Welt im wahrsten Sinne des Wortes zusammen. Ein Terroranschlag legt das Museum in Schutt und Asche. Theo gelingt es, sich aus den Trümmern zu befreien. Er irrt durch die aufgewühlte Stadt, es gelingt ihm, nach Hause zu gehen und er hält sich an dem Gedanken fest, dass er dort auf seine Mutter treffen wird. Theo wartet Stunde um Stunde allein in der Wohnung. Dann kommt die Gewissheit: Theos Mutter hat den Anschlag nicht überlebt. Der Junge bleibt allein zurück. Sein Vater hat die Familie sitzengelassen. Im Verlauf des Romans  wird dieser Vater als spielsüchtiger Traumtänzer aus der Versenkung erscheinen und Theo nach Las Vegas holen, doch zunächst findet Theo Aufnahme bei der wohlhabenden Familie Barbour, deren familiäres Gleichgewicht auf dünnem Eis steht. 

In Theos Leben gibt es wenige Ankerpunkte: Der Antiquitätenhändler Hobie wird für Theo zu einem Vaterersatz. Der gleichaltrige Boris, dem Tobi in Las Vegas begegnet, wird sein Seelenverwandter, mit dem er in einen Rausch aus Alkohol und Drogen verfällt, und der seinen Lebensweg immer wieder kreuzen wird. Und schließlich das Gemälde „Der Distelfink“ von Carel Fabritius, das sich seit dem Anschlag in Theos Besitz befindet. Welton Blackwell, ein alter Mann, der vor Theos Augen in den Trümmern des Museums gestorben ist, hat den Jungen aufgefordert, das Bild an sich zu nehmen. Der Besitz dieses Kunstwerks bleibt Theos Geheimnis, und er hütet diesen kostbaren Schatz fortan im Verborgenen.

Donna Tartt nimmt sich für ihre Texte Zeit. Sie veröffentlicht ihre wenigen Romane im Abstand von etwa zehn Jahren. „Der Distelfink“ ist ihr jüngster – ein herausragender, mit dem Pulitzer Preis gekrönter Roman. Theo Deckers Geschichte ist ein monumentaler Text, der jede einzelne Nuance von Theos Trauer und Schmerz erzählt, der mich als Leserin eingesogen hat in das komplexe Geschehen, das die Autorin mit scheinbar leichter Hand darstellt. Tartt zeichnet die vielschichtigen Charaktere virtuos mit all ihren Brüchen, Widersprüchen und mit einem zutiefst menschlichen Blick.

„Der Distelfink“ ist ein Coming-of Age-Roman, eine Familiengeschichte, ein Thriller und allem übergeordnet ein Roman, der vom Leben nach dem größten anzunehmenden Unglück erzählt. Wie fühlt es sich an, wenn die Welt aus den Fugen geraten ist? Wie lebt es sich nach der Katastrophe? 

Das Gemälde, das dem Roman seinen Namen gegeben hat und das Theo vor der Welt versteckt, existiert tatsächlich. Es hat in der historischen Wirklichkeit – wie sein Hüter Theo im Roman – eine Katastrophe überlebt: Am 12. Oktober 1654 explodierte in Delft eine Pulvermühle, die das Atelier des Rembrandt-Schülers Carel Fabritius zerstörte und den Maler in den Tod riss. „Der Distelfink“ ist eines der wenigen Werke, das die Explosion wie durch ein Wunder überstand und dem Donna Tartt im gleichnamigen Roman ein zweites Mal ein neues Leben schenkt. 

Das Wundersame spielt im Roman eine wichtige Rolle: Theos Überleben, der letzte Moment mit Welton Blackwell, der ihm dem Weg zu Hobie weist und ihn dazu bewegt, das Gemälde mit sich zu nehmen. Boris, der ukrainische Halbwaise, der für Theo Verderben und Rettung darstellt und immer wieder in Theos Leben tritt, es verdirbt und doch wieder rettet. „Der Distelfink“ erzählt ein Wunder als solches: Ein Junge und ein Gemälde überleben eine Katastrophe.

Das Gemälde stellt einen Vogel dar, der auf einer Halterung an einer Wand sitzt und durch eine Kette mit dieser verbunden ist, damit er nicht wegfliegen kann. Der gefangene Distelfink spiegelt einen Kerngedanken des Romans wider:

„Warum bin ich geschaffen, wie ich bin? Warum liegt mir alles an den falschen Dingen und nichts an den richtigen? Oder, um es anders zu drehen: Wieso sehe ich so klar, dass alles, was ich liebe, was mir am Herzen liegt, Illusion ist, und wieso liegt – für mich jedenfalls – alles, wofür sich zu leben lohnt, in diesem Zauber? Ein großes Leid und eines, das ich erst anfange zu verstehen: Wir können uns unser eigenes Herz nicht aussuchen. Wir können uns nicht zwingen zu wollen, was gut für uns oder gut für andere ist. Wir können uns nicht aussuchen, wer wir sind.“

Theo ist der Ich-Erzähler und er reflektiert am Ende des Romans das Gemälde und anhand des Gemäldes sein Leben. Er schwankt zwischen Nihilismus und Hoffnung, und ich als Leserin wanke mit ihm und wünsche mir, dass er sich irrt, wenn er der menschlichen Existenz ihre Sinnhaftigkeit abspricht, und dass seine skeptische Annahme wahr ist. Und weil in Donna Tartts Roman Wunder möglich sind, stehen die Chancen nicht schlecht: 

„Und wer weiß – aber vielleicht ist es das, was uns am Ende der Reise erwartet, eine Majestät, die unvorstellbar ist bis zu dem Augenblick, da wir unversehens durch die Tür treten: das, was wir staunend erblicken, wenn Gott endlich Seine Hand von unseren Augen nimmt und sagt: Schau!“ 

„Der Distelfink“ ist für mich persönlich das wichtigste Buch, dass ich in den vergangenen Jahren gelesen habe. 

Lest dieses Buch! Unbedingt.

Donna Tartt: Der Distelfink
Ins Deutsche übertragen von Rainer Schmidt und Kristian Lutze.
Wilhelm Goldmann Verlag 2013
ISBN 978-3-641-12598-1

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