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Der Gott der Erinnerungen

Einer meiner Vorsätze für das neue, junge Jahr 2024 ist es, mehr von Yoko Ogawa zu lesen. Bereits der Roman „Insel der verlorenen Erinnerung“ hatte mich vor einigen Jahren auf die preisgekrönte japanische Autorin neugierig gemacht. Jetzt hat mich ein Weihnachtsgeschenk wieder zur Lektüre von Ogawa geführt. Das Paket, das jemand vom Briefkasten durch den Regen mit ins Haus gebracht hatte, fühlte sich unverkennbar nach Büchern an. Und weil ich weiß, dass die Absenderin immer zielsicher weiß, welche Bücher mir gefallen, machte ich mir gar nicht die Mühe, den Umschlag vorsichtig zu öffnen. Ich riss ihn einfach auf – und begann zu lesen.

Ryoko hat ihren Geliebten Ruki verloren. Der begnadete Parfümeur hat sich das Leben genommen, nachdem er Ryoko das eigens für sie geschaffene Parfum „Quell der Erinnerung“ geschenkt hat. Als Ryoko zu ergründen versucht, warum Ruki sich umgebracht hat, muss sie erkennen, dass er ihr wesentliche Teile seiner Lebensgeschichte verschwiegen hat: Ruki konnte nicht nur herausragende Düfte kreieren, er war ein virtuoser Eiskunstläufer und darüber hinaus ein Mathematik-Genie, das in seiner Jugend zahlreiche Preise gewonnen hat. In seinem Elternhaus hütet Rukis alte Mutter die zahllosen Siegerpokale, die er bei Mathematik-Wettbewerben gewonnen hat, wie einen Gral. Der Bruder Akira, der äußerlich Rukis Ebenbild ist, führt hingegen ein Leben im Schatten des genialen Bruders.

Eine Reise nach Prag hat vor vielen Jahren offenbar dazu geführt, dass Ruki die Mathematik von einem Moment zum anderen aufgegeben hat. Ryoko macht sich auf den Weg nach Europa, um herauszufinden, was dort passiert ist. Mit Jeniak, einem Touristenführer, streift sie durch Prag. Sie orientiert sich mühsam in der fremden Umgebung und kann sich mit Jeniak kaum verständigen. In einem Klostergarten findet sie den Eingang zu einer Höhle. Jeniak scheint plötzlich verschwunden zu sein. In der Höhle nimmt Ryoko den Duft vom „Quell der Erinnerung“ wahr. Ein Mann tritt hervor und heißt sie willkommen. Er bewacht die Pfauen, die im Garten und in der Höhle leben und als „Boten des Gottes der Erinnerung“ gelten – und die auch den Flakon vom „Quell der Erinnerung“ zieren, den Ruki ihr vor seinem Tod geschenkt hat. 

Ryoko wird schließlich erfahren, was Ruki vor vielen Jahren in Prag widerfahren ist. Sie wird erfahren, was er ihr erzählt und was er ihr verschwiegen hat. Der wahre Grund für Rukis Suizid bleibt jedoch vage und unpräzise. Ogawa hält Ryoko und den Leser in Ungewissheit. Dennoch wird Ryoko Ende des Romans ein Stück weit Erlösung finden, denn sie wird um Ruki weinen können.

Wie die „Insel der verlorenenen Erinnerung“ ist „Der Duft von Eis“ eine Variation über das Thema Erinnerung. Ogawa gibt dem Leser einen weiten Raum, dieses Thema zu reflektieren, es gleichsam abzuklopfen. Die Autorin erzählt so leichthändig wie tiefgründig: Eine klare, schnörkellose Sprache geht einher mit einer hohen poetischen Dichte, die durch irreal-phantastische, traumähnliche Szenen und Bilder erzeugt wird. 

Die Geschichte ist reichhaltig, denn die Szenen und Figuren bieten verschiedene Lesarten und Deutungsansätze. Rukis Multi-Genialität hat mich an Elena Ferrantes geniale Freundin erinnert. Die dargestellte Mutter-Sohn-Beziehung ist das treffsichere Psychogramm eines toxischen Abhängigkeitsverhältnisses. Ryokos Weg durch Prag, der sie zum Hüter der Pfauen führt, erinnert an traumwandlerische Szenen aus den Texten von Kafka, entbehrt aber zugleich jeder Bedrohlichkeit oder Ausweglosigkeit, denn Ryoko gewinnt auf diesem Weg Erkenntnis. Sie findet in der Höhle der Pfauen Trost und lernt zu trauern. 

„Der Duft nach Eis“ ist für mich die Geschichte eines Trauerprozesses. Ryoko hat Wegbegleiter, die ihr helfen und in denen Ruki auf unterschiedlichste Weise gespiegelt wird: der Bruder Akira, der Hüter der Pfauen und der rätselhafte Jeniak, der „junge Mann“. Doch den Weg muss Ryoko im wahrsten Sinne des Wortes allein gehen und akzeptieren, dass es nie wieder gut wird: 

„Wir waren umgeben von einem Meer aus Mohnblumen, das bis zum Horizont reichte. Ihre Stiele und Blütenblätter wiegten sich zu den Klängen des Cellos.

Mein Gesicht war tränenüberströmt. Jeniak spielte mit gesenktem Blick. Meine Wangen würden nie wieder trocknen.“

Ich als Leserin habe Ryoko in diesem Prozess begleitet und dabei immer wieder Anlässe gefunden, zu hinterfragen:

„Die Vergangenheit ist unzerstörbar. Genauso wie Entscheidungen nicht rückgängig gemacht werden können, lässt sie sich nicht beliebig manipulieren. Jede Erinnerung wird bewahrt. Sogar über den Tod hinaus…“

Ist es wirklich so, wie es der Hüter der Erinnerung darstellt?

Ich nehme diese Frage ebenso mit wie die vielen noch offenen Fragen zu Ruki, mit denen Ogawa ihre Heldin Ryoko und mich zurückgelassen hat. Und ich werde noch eine Weile über dieses Zitat nachdenken. Auch dies macht für mich die Reichhaltigkeit dieses Romans aus. 

Yoko Ogawa: Der Duft von Eis
Aus dem Japanischen von Sabine Mangold
Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2022

ISBN 978-3-95438-150-0

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  • Beitrag veröffentlicht:4. Januar 2024
  • Beitrags-Kategorie:Romane