In einer Kleinstadt im Sauerland: Der Vater, der in der Schmiede arbeitet. Ein Malocher. Die Mutter, die schneidert, in der Wäscherei hilft, putzen geht und trotzig versucht, für alle das Beste herauszuholen. Das größte Glück ist der Urlaub an der Nordsee. Immer in zweiter Reihe, nie mit Meerblick, denn das Geld ist knapp. Die älteste Tochter Lisbeth sitzt im Rollstuhl. Der vernünftige älteste Sohn. Die zweite Tochter, die Rebellin, die irgendwann weggeht. Und das jüngste Kind, der kleine Clown, der als Erwachsener zurückblickt und die Geschichte seiner Familie erzählt. Die Eltern und Lisbeth sind da bereits gestorben. Das kleine Reihenhaus, das die Familie nie abbezahlen konnte, steht zum Verkauf.
Martin Becker hat in seinem jüngsten Roman „Die Arbeiter“ die Geschichte seiner Familie aufgeschrieben. Der jüngste Sohn ist Beckers alter ego. „Die Arbeiter“ – der Klassenbegriff markiert die Schublade, in der die Familie steckt und in der die Kinder immer auch ein Stück weit bleiben werden:
„In Wahrheit waren wir immer draußen. Da können wir romantisieren und Kosmetik betreiben, wie wir wollen. Besser wird es nicht. (…) Das ist so drin, das geht nicht mehr weg. Wenn ich über meine Arbeit rede, dann ist auch alles klein. Ich habe ein kleines Büro in einer kleinen Straße in einer kleinen Stadt.“
Dieser Roman ist ein ehrliches Buch. Ein starker Bohnenkaffee ohne Zucker und mit einem kleinen Schuss Milch. Es geht um Sehnsucht, Trauer, Wut, Schmerz, Scham. Verklärt wird hier nicht. Die Mär von den einfachen Leuten und vom kleinen Glück ist demontiert, denn einfach ist hier nichts und niemand. Was dieses Buch so besonders macht, ist die Liebe mit der der Erzähler alias Martin Becker von dieser Familie spricht. Sein Blick ist so unerbittlich ehrlich wie warmherzig – ein liebevoller Realismus: Die Eltern, die von der Pflegebedürftigkeit überrollt werden und dennoch nicht aufhören, miteinander zu lachen und albern zu sein. Die anstrengende, ewig fordernde Lisbeth. Die Bescheidenheit des Zuhauses.
Eine Szene berührt mich besonders: Als die Eltern erfahren, dass sie ein behindertes Kind adoptiert haben und die Behörden anbieten, das Mädchen zurückzunehmen, sind die beiden außer sich und weigern sich, Lisbeth wieder herzugeben. Hier werden Mutter und Vater zu Helden:
„Mir wird erst klar, wie meine Eltern wirklich waren, als mein Vater schon nicht mehr am Leben und meine Mutter längst dement ist. Anhand der Geschichte ihrer ersten Tochter. (…) Ausgerechnet das für mich Alltäglichste und Selbstverständlichste ist es, was sie so abhebt, was sie so besonders macht, worauf ich erst heute stolz bin: Ihre bedingungslose Liebe zu Lisbeth.“
Einmal Arbeiterkind, immer Arbeiterkind. Ein zentrales Thema in diesem Roman ist die Prägung durch Herkunft. Der Roman beschreibt den Spagat zwischen der Suche nach Distanz und der Unmöglichkeit, Familie hinter sich zu lassen. Die Figur der Schwester Uta symbolisiert das. Ihre Geschichte ist eine Erfindung in der Erzählung, ein fiktionales Spiel, ein Freiraum des Erzählers, in dem er auslotet, wie ein Leben als Kind dieser Familie auch hätte sein können. Die tatsächliche Schwester im Roman ist bereits als Kleinkind verstorben. Der Erzähler denkt sie sich zurück, macht sie zur Rebellin, die der Enge entflieht: „Sie ist aus dem Bild gesprungen, bevor sie für immer ein Teil von ihm wurde.“
In seinen früheren Romanen hat sich Martin Becker seiner Herkunft bereits genähert und Variationen seiner Familiengeschichte verarbeitet und zitiert. Hieß der Heimatort des Helden in „Kleinstadtfarben“ noch Mündendorf, nennt er ihn nun beim Namen: Plettenberg, eine von der Metallindustrie geprägte Stadt im Märkischen Kreis, wo das Sauerland mehr Ruhrgebiet als gefällige Urlaubsregion ist.
Ich lebe seit einiger Zeit hier und lese die Bücher von Martin Becker als einen Schlüssel zu der Geschichte und den Geschichten meines neuen Zuhauses. Einige Orte und Personen erkenne ich bereits wieder, wenn ich Buchstaben umdrehe oder mit offenen Augen durch die Straßen gehe. Und ich freue mich, dass dies vielleicht ein Zeichen dafür ist, dass ich angekommen bin.
Und aus einem weiteren Grund bin ich zur richtigen Zeit auf Martin Becker aufmerksam geworden. Ich nehme auch gerade Abschied von meinem Elternhaus, blicke auf die letzten Lebensjahre meiner alten Eltern zurück, sortiere Geschirr, Fotos, Erinnerungen an meine Kinderfamilie. Jetzt ist es da,
„das beschissene Gefühl, wenn jemand kommt und sagt: Die Zeit ist abgelaufen, es tut mir leid. So wie gestern wird es heute nicht mehr sein. Und morgen nicht. Und übermorgen sowieso nicht.“
In vielen Sätzen, die wunderbar und universell sind, erkenne ich mich wieder. Einer meiner liebsten ist „Die Umkehr des Mutter-Kind-Prinzips bei gleichbleibendem Kleinsein“. Genauso fühlt es sich an.
Große Leseempfehlung und ein herzlicher Dank an Martin Becker für Sätze wie diesen!
Martin Becker: Die Arbeiter
Luchterhand Literatur Verlag 2024
ISBN 978-3-630-87740-2