Am Anfang von Liz Nugents „Kleine Grausamkeiten“ gibt es eine Leiche – die Geschichte beginnt mit einer Beerdigung. Das ist auch das einzige Merkmal, das die Bezeichnung „Kriminalroman“ rechtfertigt. Der Roman ist eine handfeste Familientragödie, in der der Leser bis zur letzten Seite auf die Folter gespannt wird, wer eigentlich im Sarg liegt. Welcher der drei Brüder hat das Jahrzehnte währende Drama der irischen Familie Drumm nicht überlebt? Der erfolgreiche und machtbesessene Filmproduzent William, der Älteste, der sich stets nimmt, was er will? Das enfant terrible Luke, das exaltierte, ehemalige Teenie-Idol? Oder der so stille wie eigennützige Brian, ein gescheiterter Lehrer, der im Schatten seiner Brüder steht und dort bestens zurechtkommt?
Alle drei Brüder erzählen in dem Roman ihre Version der Familiengeschichte. Der Begriff „toxisch“ mag derzeit überstrapaziert sein, aber wenn er auf ein Beziehungsgeflecht zutrifft, dann auf das der Drumms. Im Märchen der Gebrüder Grimm schickt der Vater die drei Brüder in die Welt hinaus, auf das der Beste am Ende das Elternhaus gewinnen möge. Bei Liz Nugent zieht die Mutter die Fäden, an denen ihre Söhne wie Marionetten hängen, ob sie es wollen oder nicht. Melissa Drumm ist eine narzisstische Mutter wie aus dem Lehrbuch. Das bekannte „Showgirl“, bekannt aus Funk und Fernsehen, ist nach dem frühen Tod des Vaters die Sonnenkönigin der Familie. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie die älteren Söhne mehr und den jüngsten weniger liebt. Sie legt damit den Grundstein für einen immerwährenden Wettkampf um Frauen, Erfolg und Lebenssinn, der am Ende einen der Brüder das Leben kosten wird.
Die drei Erzähler erstellen zusammen die Draufsicht der familiären Katastrophe. William, Luke und Brian sind Figuren mit klaren moralischen Defiziten: William nutzt Frauen schamlos aus und wird mit Fug und Recht zur Zielscheibe der Me-Too-Bewegung. Brian ist ein Geizhals, der mit Inbrunst andere zu seinen Gunsten übervorteilt. Luke ist das ewige Kleinkind, das sich nur um sich selbst dreht, sich in jungen Jahren in einen skurilen religiösen Wahn steigert, um später als Popstar die Bühne zu erobern – ganz Sohn seiner Mutter.
Liz Nugent erzählt virtuos und mit bestechendem Humor. Die Szenen, in denen der kleine Luke als Jesus verkleidet mit einem Holzkreuz und blutigen Löchern in den Händen auf einer Halloween-Party erscheint oder während der Papstmesse in Dublin völlig aus der Rolle fällt, sind zum Brüllen komisch. Jeder der Brüder ist auf eine Art mit sich so vollkommen einverstanden, dass man von Treuherzigkeit sprechen muss, und zu meinem Erschrecken stelle ich fest, dass ich sie dafür schon wieder mag. Und hier erkenne ich, dass Liz Nugent ein Spiel mit mir als Leserin spielt, denn sie und ich erwischen mich eiskalt dabei, wie ich jedem einzelnen Bruder auf dem Leim gehe. System verstanden. Absolute Mängelexemplare differenziert menschlich zu machen, ohne sie zu entschuldigen, sondern um ihre Funktion zu verdeutlichen, ist eine hohe Kunst. Liz Nugent beherrscht sie großartig.
Liz Nugent: Kleine Grausamkeiten
Aus dem Englischen von Kathrin Razum
Steidl Verlag 2023
ISBN 978-3-96999-202-9