Das Buch lag schon lange auf dem Stapel meiner ungelesenen Bücher. „Paradise Garden“ – ein guter Titel für einen Sommerurlaub. Ich hatte den Roman im letzten Jahr auf der Liste für den Deutschen Buchpreis gesehen. Die Autorin Elena Fischer kommt aus Mainz, wo ich selbst lange Jahre gelebt habe. Ich weiß genau, an welchen Orten Billies Geschichte spielt, und so interessierte mich auch der Rest des Buches. Jetzt ist die letzte Seite gelesen. Die Liste meiner Lieblingsbücher hat einen neuen Eintrag. Elena Fischers Debütroman „Paradise Garden“ ist wunderbar im wahrsten Sinne des Wortes. Doch der Reihe nach.
Die vierzehnjährige Billie lebt mit ihrer Mutter Marika in einer Hochhaussiedlung am Rande der Stadt. Bestimmte Wege muss man meiden, damit man nicht von dem Müll getroffen wird, den Bewohner aus den oberen Stockwerken werfen.
Marika ist früh Mutter geworden und mit ihrer kleinen Tochter aus Ungarn nach Deutschland gekommen. Jetzt hält sie sich und Billie mit zwei Jobs mühsam über Wasser. Marika ist arm, aber voller Fantasie: Sie schläft auf einer Matratze, hat Möbel aus Paletten gebaut, und im Sommer stellt sie die Stühle in den Laubengang vor der Wohnungstür. Dann ist es ein bisschen so, als wären Billie und Marika im Urlaub.
Marika ist stolz. Billie kennt ihren Vater nicht. Marika schweigt eisern und verweigert Billie jede Information. Als Marika eines Tages ein bisschen Geld bei einem Radio-Spiel gewinnt, machen Mutter und Tochter große Pläne: Sie wollen das Meer sehen. Das Geld reicht nicht für eine Flugreise, aber mit dem alten Nissan, der keinen TÜV mehr hat und dessen Beifahrertür zugebunden werden muss, wollen die beiden es versuchen. Ein Anruf der Großmutter aus Ungarn ändert alles. Marika holt ihre offenbar schwer erkrankte Mutter zu sich, obwohl das Verhältnis konfliktbeladen ist. Sie quartiert die seltsame Frau in Billies Zimmer ein und schickt sie von einem Arzt zum anderen. Das Zusammenleben der drei Generationen auf engstem Raum geht nicht lange gut.
Billie ist die Erzählerin und schildert im Rückblick, was geschehen ist. Als der Roman einsetzt, ist die Katastrophe bereits passiert:
„Meine Mutter starb in diesem Sommer.
Ein Lied im Radio war nur noch Geräusch und keine Einladung mehr mitzusingen, obwohl keine von uns den Text kannte. Ein Regenguss war nur noch Wetter und keine Gelegenheit mehr, nach draußen zu laufen und barfuß in einer Pfütze zu tanzen.
Das klingt vielleicht poetisch, aber das ist es nur auf dem Papier. Vierzehn ist ein beschissenes Alter, um seine Mutter zu verlieren. Die Trauer kommt und geht wie Ebbe und Flut.“
In Elena Fischers Coming-of-Age-Roman geht es um Trauer, Schmerz, Liebe und Wut. „Paradise Garden“ – der Titel ist von vielschichtiger Bedeutung – ist die große Geschichte einer Liebe zwischen Mutter und Tochter und eines Roadtrips, an dessen Ende neue Anfänge stehen. Billie ist eine Heldin im doppelten Sinne. Als alles verloren zu sein scheint, macht sie sich entschlossen auf den Weg, um ihren Vater zu finden, den sie nicht kennt, der aber für sie die einzige Hoffnung in einer Welt ohne Mutter ist. Billie schnappt sich kurzerhand den alten Nissan und fährt los. Sollte dieser Roman jemals verfilmt werden, dann tut dies hoffentlich Fatih Akin, denn Billie kann es locker mit Maik und Tschick aufnehmen.
Billie passieren Wunder. Ich bin mir sicher, dass Elena Fischer an einer Stelle Billie auf Gott treffen lässt. Und Billie vollbringt selbst Wunder, denn die Vierzehnjährige findet tatsächlich Spuren aus dem Leben ihrer Mutter, die ihr neue Perspektiven aufzeigen. „Paradise Garden“ ist eine Geschichte voller Traurigkeit, Hoffnung und lässt mich als Leserin in der Gewissheit zurück, dass es gute Fügungen gibt. Man muss also fest an sie glauben.
Elena Fischer stellt Billie tapfere Gefährten an die Seite: Luna und Ahmed, die Nachbarn im 17. Stock der Hochhaussiedlung, sind gebrochene Gestalten, Ausgegrenzte, die sich dennoch mit allen Mitteln unterstützen und Billie auf dem Weg ins Ungewisse hilfreich zur Seite stehen.
Billie ist einer Meisterin der Worte. Schreiben ist ihre Rettung. Wenn sie über ihre Trauer spricht, dann sind das Sätze, die tiefe Kreise ziehen und Verlust auf einen poetischen Nenner bringen. Das macht diesen Roman zu einem Lesebuch für alle, die jemanden verloren haben.
„Paradise Garden“ ist ein Buch für junge und alte Lesende, das vielleicht und hoffentlich Schullektüre wird. Vor einigen Tagen wurde der Roman mit dem Debütpreis 2024 des Literaturwerks Rheinland-Pfalz-Saar ausgezeichnet. Mit Fug und Recht.
Ich warte mit Spannung und großer Vorfreude auf weitere Werke von Elena Fischer.
Elena Fischer: Paradise Garden
Diogenes Verlag AG 2023
ISBN 978-3-257-07250-1