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Harter Brocken

Nach dem letzten Satz halte ich einen Moment inne und klappe dann das Buch langsam zu. Ich denke an meinen Lieblingsbaumarkt, in dessen Cafeteria Lena Schätte diesen Roman geschrieben hat. Gut, dass ich das Buch nicht dort gelesen habe, wie ich es eigentlich vorhatte, denn dann hätten alle gesehen, dass ich heule. All die Menschen, die Gartengeräte und Pflanzen kaufen, die Holz und Schrauben zu ihren Kombis fahren, Gardinenstangen und Geschirr. Man bekommt nämlich in diesem Hagebaumarkt fast alles. Und während in urbaneren Gegenden solche Texte vermutlich in Kaffeehäusern oder Bars entstehen, passieren im Märkischen Kreis literarische Wunder im Baumarkt. Auch das ist ein Grund, warum ich gern hier lebe.

„Das Schwarz an den Händen meines Vaters“ ist ein weiterer autofiktionaler Text, den ich in diesem Jahr gelesen habe und den ich in meinem Leben noch lange drehen und wenden werde. „Motte“ erzählt. Sie hat im Roman nur diesen Namen, den der Vater ihr gegeben hat. Umarmung und Stempel zugleich, denn die Alkoholabhängigkeit dieses Vaters prägt „Motte“ ebenso wie die Liebe zu ihm. An einer Stelle sagt die Erzählerin, dass sie zwei Väter hat: „Den einen nüchternen, der schnell rennen kann und gute Verstecke kennt. Der auf alle Fragen eine Antwort weiß und wenn nicht, sich eine gute ausdenkt.“ Und den anderen, den Trinker, der die Arbeit verliert, wegen dem die Familie nicht mehr krankenversichert ist, der auf dem Boden liegt, die Familie bloßstellt und oft im Stich lässt:

„Je älter ich werde, desto seltener sehe ich meinen ersten Vater. Manchmal starre ich dem zweiten lange in die Augen und frage mich, ob der erste da noch irgendwo ist.“

Mottes Geschichte ist in weiten Teilen die Geschichte von Lena Schätte, hier fiktionalisiert zum Schutz ihres privaten Lebens und ihrer Familie. Gewidmet ist das Buch ihrem Vater: „Für Papa“. Schättes Roman besteht aus 64 Kapiteln, die jeweils nur wenige Seiten umfassen und in denen die Erzählerin das Leben mit dem trinkenden Vater erinnert und reflektiert. Jedes Kapitel ist wie ein Gedanke, den ich mir jetzt im Rückblick wieder greifen, noch einmal lesen kann. Die Konsequenzen für Mutter und Geschwister. Die Sucht-Tradition in der Familie und in der kleinen Malocher-Stadt. Die Stigmatisierung, Das Ausgeladen-Werden von Kindergeburtstagen, die eigene Unfähigkeit zu einem maßvollen Umgang mit Alkohol.

Auf weniger als 200 Seiten ist ein dichter Text entstanden. Die Geschichte ist ein harter Brocken, doch Lena Schätte erzählt so klar und unaufhaltsam, dass ich das Buch mit nur wenigen Unterbrechungen gelesen habe. Kein Satz, kein Wort zu viel, und dennoch wiegt das Gelesene schwer. Jede Episode sitzt. Eine Erinnerung an Schmerz und Liebe reiht sich an die andere. Der Alkohol ist ein roter Faden, der sich quer durch die Familie zieht. Männer trinken, Frauen bleiben allem zum Trotz oder viel zu lange. 

Die Figur des Bruders bleibt mir im Gedächtnis. Er ist ein Gegenentwurf zu den trinkenden Männern. Der Bruder arbeitet in einem Kindergarten, ist Mottes Fluchtpunkt und Trost, hebt sie auf und korrigiert sie, wenn sie selbst die Kontrolle verliert, weil sie zu viel getrunken hat. Der Bruder ist der Leuchtturm, der einzige wirklich Erwachsene in der Geschichte, das Gegengewicht zum gebrochenen Vater, der hinter dem Alkohol verschwindet und schließlich stirbt. Am Ende des Buches steht ein Traum, ein großes Bild von Trauer und Liebe. Kapitel 64 hat mir als gefasster Leserin das Genick gebrochen. 

Ein Buch über die Wucht der Verantwortung für die Liebe der Kinder. Und ein Buch über die zerstörerische Kraft des vermeintlichen Kulturgutes Alkohol. Ich trinke noch immer gern Wein, aber ich lächle nicht mehr süffisant und frage nicht mehr, ob man uns denn heute alles vermiesen wolle.

Lena Schätte: Das Schwarz an den Händen meines Vaters
S. Fischer Verlag GmbH 2025
ISBN 978-3-10-397657-1

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  • Beitrag veröffentlicht:21. April 2025
  • Beitrags-Kategorie:Romane