Nachdem ich das Buch zugeschlagen habe, die letzte Seite gelesen ist, stehen Berta, Bunia, Violetta und Kalina noch einmal in einer Reihe vor mir. Ich möchte etwas trinken, das viele Prozente hat und in der Kehle brennt. Etwas Starkes, das mir hilft, diese Familiengeschichte zu verdauen, damit sie mir nicht mehr so schwer im Magen liegt und mich im Schlaf heimsucht. Joanna Bators Roman „Bitternis“ hat mich fasziniert, gefordert und aufgewühlt wie schon lange kein anderer Text. Das Lesen war ein so schweres Stück Arbeit wie das Besteigen eines steilen Berges. Aber jedes Wort, jede Seite, ist es wert. Ich wage zu behaupten, dass mich in nächster Zeit wenige Geschichten so beschäftigen werden, wie die der Familien Koch und Serce.
Der Roman beginnt in der Jetzt-Zeit in der polnischen Stadt Sokołowsko, die früher Görbersdorf hieß und ein bekannter Kurort für Tuberkulosekranke im Gebirge war. Kalina Serce hat ein altes Haus gekauft, das früher einmal die Pension „Glück“ war und in dem ein wolfsähnlicher Hund wohnt, der einmal dem Heiler Bazyl Ochęduszko gehört haben soll. Kalina ist die Erzählerin, die die Geschichte ihrer Familie freilegt wie alte Dielenbretter. Hier in der Pension „Glück“ nimmt alles seinen Anfang und hierher führt am Ende wieder der Weg. Kalina wird mit Hilfe eines Privatdetektivs und dank einiger wundersamen Begegnungen erfahren, was geschehen ist.
Berta Koch, Kalinas Urgrußmutter, empfing in der Pension „Glück“ vor vielen Jahren ihre Tochter Barbara, aber „Glück“ wird für die Frauen, die dieser Linie entstammen, über Generationen nicht mehr als der Name einer Pension sein. Sie verlieren die Männer, die sie lieben, und sie rächen sich an den Männern, von denen sie gedemütigt und misshandelt werden, mit legendärer, archaischer Grausamkeit. Kalina sagt gleich zu Anfang: „Die Geschichte meiner Familie ist durchsetzt mit männerförmigen Löchern.“ Liebe zwischen Müttern und Töchtern ist nicht möglich. Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Erst nach Generationen wird es Kalina gelingen, im wahrsten Sinne des Wortes das „Glück“ wiederzufinden.
Joanna Bator schafft auf über 800 Seiten eine Kaleidoskop von Schmerz, Liebe, Verlust und Gewalt. Im Roman hat sie zahllose Figuren verwoben, jede von ihnen eine treffsichere Miniatur der menschlichen Existenz. Jeder Name ist eine tiefwurzelnde Geschichte: die ihrer Trauer und Verzweiflung trotzenden Maria und Jakub Serce, der so irre wie visionäre Claus von Schlaus, die Hausgemeinschaft am Bergmannplatz – alle zusammen ergeben ein komplexes, mitunter groteskes Panorama, das an Gemälde von Bruegel erinnert.
Die Namen der Heldinnen Berta Koch, Barbara sowie Violetta und Kalina Serce sind sprechend und zeigen an, um was es geht: Koch und Herz, polnisch Serce. Es geht um Elementares: um die Untiefen der Seele, um Schmerz, Verlust und um das Essen und Fressen und Gefressenwerden. An einer Stelle im Roman bringt es German Wagenknecht, der unglücklich in Berta Koch verliebt ist, auf den Punkt. Seine Mutter hat ihn gelehrt,
„dass entweder sie selbst fressen oder die Wölfe sie fressen würden, und dass das ganze Leben darin bestehe, etwas zu fressen zu haben und sich nicht fressen zu lassen. Erst später hatte German herausgefunden, dass es außerdem noch um Liebe ging, doch auch auf diese ließ sich wohl die Lebensweisheit seiner Mutter anwenden, denn lieben, selbst unerwidert – so wurde es German nun bewusst-, hieß sich nicht fressen zu lassen.“
„Bitternis“ beschreibt die Emanzipation von Gewalt und Nicht-Liebe und das Suchen und Finden von Identität. Wenn ich ein Buch lese, markiere ich Textstellen, die mir wichtig sind, mit dünnen Bleistiftstrichen und klebe bunte Papierstreifen auf die Seiten, die ich schnell wieder aufschlagen möchte. Mein Exemplar von „Bitternis“ ist jetzt bunt. Auf zahlreichen Seiten sind Sätze markiert. Joanna Bator erzählt unerbittlich und deshalb großartig. Sie leuchtet in jede Ecke, sarkastisch, drastisch und mit zornigem Witz.
Außerdem lässt Bator Wunder zu. Wunder bilden das Gegengewicht zu Schrecken und Gewalt: Figuren und Ereignisse lenken an entscheidenden Stellen das Geschehen gleichsam märchenhaft und bringen Kalina auf ihrer Spurensuche weiter.
Am Ende des Romans spricht Kalina von einem „Zellgedächtnis“, das für sie über Generationen in ihrer Familie erkennbar wird und ihr am Ende eine neue Perspektive eröffnet. Auch ich erkenne als Leserin, dass in all der Gewalt, in allem Elend und in allen gescheiterten Versuchen, glücklich zu sein, wundersamen Fügungen wie goldene Fäden sichtbar werden, hier und da aufschimmern. An diesen Stellen wird die Geschichte plötzlich leicht. Der Fleischbrocken, als den ich „Bitternis“ oft empfunden habe, beginnt zu schweben.
„Bitternis“ ist eines der herausragendsten Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe.
Joanna Bator: Bitternis
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
Suhrkamp Verlag AG 2023
ISBN 978-3-518-43131-3