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„Wir sind nackte, sterbliche Menschen“

Irgendwo auf dem Schlachtfeld in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs: Der Bäcker Wilhelm Bettuch nimmt einem Toten den Pass aus der Uniformjacke und kehrt als der Arzt Hans Stern zurück nach Berlin. Hier erkennt niemand, dass er gar nicht der ist, für den alle ihn halten. Mutter, Ehefrau, Geliebte, Kollegen und Freunde bleiben ahnungslos. Nur der Hund der Familie wittert, dass etwas nicht stimmt. Hans Stern nimmt seine Arbeit wieder auf. Als er vor Gericht als medizinischer Gutachter in einem Mordprozess aussagen muss, in dem die Schwester von Wilhelm Bettuch, also seinem eigentlichen Ich, angeklagt ist, gerät seine mühsam gewahrte Identität außer Kontrolle.

Der Berliner Arzt Erich Mosse legte im Jahr 1926 seinen Debütroman „Ich?“ vor. Er veröffentlichte ihn unter dem Pseudonym Erich Flamm. Mosse verließ in den Dreißigerjahren als Jude Hitler-Deutschland und emigrierte nach New York. Er arbeitete dort als Psychiater und stand in Kontakt mit William Faulkner, Albert Einstein und Charlie Chaplin. 

„Ich?“ wurde von der zeitgenössischen Presse begeistert gefeiert. Fast hundert Jahre später hat der Text seine Wirkungsmacht nicht eingebüßt. Der von Sigmund Freud geschulte Blick des Autors auf die menschliche Existenz ist titelgebend: „Ich?“ – was ist das, zu was kann es werden und was bleibt davon nach einem kriegerischen Flächenbrand zurück?

 Der Roman ist als Monolog des Helden angelegt, der vor Gericht steht: 

„Nicht ich, meine Herren Richter, ein Toter spricht aus meinem Mund. Nicht ich stehe hier, nicht mein Arm, der sich hebt, nicht mein Haar, das weiß geworden, nicht meine Tat, nicht meine Tat.“

Der Text dokumentiert die Traumatisierung eines Kriegsheimkehrers. Die Zerschlagung der Identität ist auf jeder Seite greifbar: 

„Ich habe keinen Nabel, ich habe keine Mutter, ich habe kein Kind, ich bin nicht eingereiht in die Kette, die durchgeht durch alle Leiber vom ersten zum letzten Menschen. Aus keinem Schoß geboren, Körper und doch keiner, ich und doch ein anderer, ein Name, ein Schicksal und doch kein Mensch.“

Vor welchem Richter der Held steht, bleibt offen. Der Text kann ebenso als eine Rede an eine übergeordnete innere Distanz, an ein Über-Ich gelesen werden. Zumeist trennen nur Kommata die Sätze voneinander, die immer wieder fragmentarisch bleiben. Sprache bildet hier die Ich-Suche ab. Vollkommene Verunsicherung wird erfahrbar. Wie lebt es sich, wenn man sich selbst nicht kennt? Dieser Versuch, eine gebrochene Identität zu erkunden und zu erklären, ist universell lesbar. Der Text ist Zeugnis der Entfremdung, Zerrissenheit und Einsamkeit eines modernen Menschen, der in sich selbst gefangen ist und nicht mehr wirksam sozial interagieren kann:  

„(…) ich habe solch eine Sehnsucht und weiß nicht wonach, ich will wachen, ich will mein eigenes Leben sehen, bis zu Ende, ich bin hineingesprungen in einen Strom und muss nun schwimmen, bis er mich wieder hinausspeit, wir sitzen alle in diesem Zug, das Leben gleitet wie diese Landschaft vorbei, (…)“

Der Romantext wird durch ein Nachwort des Schriftstellers Senthuran Varatharajah ergänzt, das eine poetische Interpretation des Textes ist und ein Stück Literatur für sich. Außerdem ist eine Rede in den Anhang gestellt, die Erich Mosse selbst im Jahr 1959 auf dem PEN-Kongress in Frankfurt am Main gehalten hat. Mosse reflektiert hier seine schmerzhafte Erfahrung als Emigrant, der zurückkehrt in das Land, das einmal seine Heimat war. Der Verlust von Identität wird hier auf biographischer Ebene verhandelt: 

„Gehen wir nach Hause! Aber wo ist das? You can’t go home again.”

Das keine zweihundert Seiten umfassende Buch ist ein Schwergewicht von großer Aktualität: Wer bin, bleibe und werde ich, wenn die Welt um mich aus den Fugen gerät? 

Möge es auch fast hundert Jahre nach seinem ersten Erscheinen viele Leser finden!

Peter Flamm: Ich?
Roman
Mit einem Nachwort von Senthuran Varatharajah
S. Fischer Verlag GmbH 2023
ISBN 978-3-10-397563-5

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