Als Jane Campbell ihre erste Kurzgeschichte veröffentlichte, war sie bereits 75 Jahre alt. Mit ihren dreizehn Stories, die in dem Band „Kleine Kratzer“ versammelt sind, eroberte Campbell wenige Jahre später die deutsche Bestellerliste. Nun habe endlich auch ich diese wunderbare Autorin entdeckt, die in diesem Jahr 83 wird und von der wir hoffentlich noch viel zu lesen bekommen.
Gute Kurzgeschichten sind hohe Kunst. Campbell versteht sie meisterhaft und legt tiefgründige Miniaturen vor, in deren Mittelpunkt stets eine alte Frau steht: Susan verliebt sich leidenschaftlich in ihre junge Pflegerin. Linda reist an den Sambesi, um noch einmal die Liebe ihres Lebens zu treffen. Eine Ich-Erzählerin fährt zur Beerdigung eines Freundes und landet auf der falschen Beisetzung. Eine Psychologin erkennt ihn einem ihrer Krankenpfleger einen ehemaligen Patienten wieder.
Alte Frauen finden in gängiger Literatur selten authentisch statt, sondern funktionieren gern als liebenswerte, weil schrullige, überzeichnete Golden Girls oder dienen als Statistinnen, die zur rechten Zeit Käsekuchen oder ein offenes Ohr bereithalten. Campbells Frauenfiguren sind komplex und loten alle Tiefen der Seele aus: Leidenschaft, Lust, Schmerz, Wut, Einsamkeit.
Sie entziehen sich auf unterschiedlichste Art Normen und sozialen Kontrollen. Bildlich passiert dies in der Geschichte „Lockdown-Phantasmen“, die mein Lieblingstext ist, weil ich sie als kritisches Modell des Altseins in der modernen Welt gelesen habe: Im „Langen Lockdown“ einer endlosen Corona-Pandemie erhalten alte Menschen ihren Aufenthaltsort zugewiesen. Wer eine große Immobilie besessen hat, ist aufgrund vermeintlicher Schutzmaßnahmen und zugunsten großer Familien enteignet. Alte Menschen haben die Wahl, ob sie mit einem Partner, ihren Kindern oder, sofern beides nicht vorhanden ist, wie die Ich-Erzählerin „eine Art Vorzeigewohnung in diesem gewaltigen Gebäudekomplex“ bewohnen möchten, in der sie kaserniert sind.
Wer isoliert ist, bekommt von der „Regierung“ Phantasmen zugeschickt. Diese Gestalten formen sich aus realen Erfahrungen und individuellen Sehnsüchten, sind mal die Kinder, die man nie hatte, der Mann, nach dem man sich immer gesehnt hat, oder die eine weinende alte Frau, die die eigenen Ängste verkörpert. Phantasmen erscheinen nahezu täglich, schenken Nähe, Aufmerksamkeit, bringen Musik und Alkohol mit und verschwinden wieder:
„Und dann gibt es in den sozialen Medien endlose Diskussionen darüber, was ein ‚Orgasmus‘ dieser Tage eigentlich sei. Das Wort hat in den letzten paar Jahren einen Bedeutungswandel erfahren und bezeichnet inzwischen jede absolut erfüllende Begegnung mit einem Phantasma, (…)“
Will ein alter Mensch nicht mehr leben – „Derzeit erscheinen einige ergreifende Artikel darüber, ob das noch Leben oder einfach Nichttotsein ist.“, – kann er den Gebäudekomplex verlassen und sich den tödlichen Mikroben aussetzen, die auf den Grünflächen lauern, oder ein „PalPac“ nutzen, dass jeder alleinlebende Alte besitzt und in dem geeignete Medikamente für einen Suizid enthalten sind. Die Erzählerin geht am Ende ihren eigenen Weg.
Die Begeisterung von Kritik und Lesern zeigt, welche Leerstelle Jane Campbells Heldinnen besetzen: Alte Menschen finden hier statt. Alte Frauen erleben Lust, Sehnsucht, reisen, befreien sich und andere auf unterschiedlichste Art. Campbell erzählt mit leichter Hand und nie ohne Humor doppelbödige Geschichten und zeichnet feingliedrige Seelenbilder. Ich erhalte einen Ausblick, wie es sein könnte, das Altsein. Wir werden keine anderen als heute sein, nur weniger gesehen und werden im Schatten der Aufmerksamkeit agieren. Damit sich das ändert, hat die Psychoanalytikerin Jane Campbell vermutlich begonnen zu schreiben. Ein Buch nicht nur für Frauen, ein ideales Geschenk (danke Karin, das war es wirklich wieder) für Leserinnen und Leser von 19 bis 99. Ich wünsche diesem Buch, dass es ein Klassiker der All-Age-Literatur wird.
Jane Campbell: Kleine Kratzer
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell.
Kjona Verlag GmbH 2023
ISBN 978-3-910372-17-7